100 Jahre nach Lenins Tod: Über den Umgang mit Lenins Erbe

Als revolutionäre Bewegung stehen wir vor einem Haufen Arbeit. Wo wir hinsehen, stellen sich Aufgaben, die angegangen werden müssen, Organisationsarbeit, die geleistet werden muss, theoretische Fragen, die beantwortet werden müssen. Warum sollten wir uns gerade jetzt, wo so viele Aufgaben auf uns eindrängen, der Vergangenheit zuwenden, um uns mit einem Revolutionär zu beschäftigen, der bereits 100 Jahre tot ist?

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Als revolutionäre Bewegung stehen wir vor einem Haufen Arbeit. Wo wir hinsehen, stellen sich Aufgaben, die angegangen werden müssen, Organisationsarbeit, die geleistet werden muss, theoretische Fragen, die beantwortet werden müssen. Warum sollten wir uns gerade jetzt, wo so viele Aufgaben auf uns eindrängen, der Vergangenheit zuwenden, um uns mit einem Revolutionär zu beschäftigen, der bereits 100 Jahre tot ist?

Zumal die Kernelemente von Lenins Leben, wie sie uns in der Regel vermittelt werden, auf den ersten Blick wenig mit unseren heutigen Aufgaben zu tun haben. Die Zeit der frühen europäischen Arbeiter:innenbewegung, des Zarismus, der europäischen Revolutionen und des ersten Weltkrieges ist lange vorbei. Auch wenn wir gegenwärtig von Krisen und Krieg umgeben sind, haben diese Ereignisse doch eine andere Form und Qualität als ihre Entsprechung vor 100 Jahren. Im Namen Lenin bündelt sich außerdem eine solche Vielzahl von Leistungen und Klassenkämpfen, dass es uns einschüchtern und befremden kann.

Schon als junger Revolutionär geht Lenin gegen falsche Anschauungen innerhalb der revolutionären Bewegung vor, verfasst wissenschaftliche Polemiken gegen die Volkstümler, die sich ganz auf die russischen Bauern stützen wollen, und gegen die legalen Marxisten, die aus dem Marxismus ein Mittel zur Aufholjagd Russlands mit den kapitalistischen Großmächten machen.

Im Kampf um die Parteiform, die die Revolution unter den Bedingungen des Zarismus zum Erfolg führen kann, zieht er klare Grenzlinien zu den Menschewiki, deren Konzept auf eine lose Vereinigung von Sozialist:innen hinauslief. Auf diesem Wege entwickelt er das Konzept der Partei neuen Typs, der bolschewistischen Vorhutpartei. Dabei knüpft er an die besten Traditionen der deutschen Sozialdemokratie an, geht aber darüber hinaus und überwindet so ihre schon damals entstehenden Schwächen und reformistischen Tendenzen.

Nach der Niederlage der bürgerlichen Revolution von 1905 – 06, im Moment, als sich die Krise der Bewegung durch eine ideologische Krise ausdrückt, verteidigt Lenin den revolutionären Marxismus gegen seine vermeintlichen Erneuerer. Als der erste Weltkrieg ausbricht und damit endgültig klar wird, dass der Kapitalismus der freien Konkurrenz in ein neues qualitatives Stadium seiner Entwicklung übergegangen war, ist es Lenin, der diese Entwicklung mit seiner Imperialismus-Theorie am klarsten erfasst. Er zieht zudem konsequent und umfassend die politischen Lehren daraus. Zugleich zeigte seine Analyse des Imperialismus die tieferen Wurzeln für den Verfall der Sozialdemokratie auf, indem sie die Arbeiter:innenaristokratie – also durch den Imperialismus ökonomisch und sozial bessergestellte Schichten der Arbeiter:innenklasse – als Produkt des Imperialismus und die nun reformistische Sozialdemokratie als deren politische Vertreter analysiert.

Als die durch die ungelöste Bauernfrage und den Ersten Weltkrieg ausgelöste tiefe Krise des Zarismus zur Februarrevolution führt, sind es die Bolschewiki unter Lenins Führung, die diese Gelegenheit nutzen. Sie erkennen, dass die bürgerliche Februarrevolution die Rolle einer Zwischenstufe zur proletarischen Revolution spielen konnte, und treiben sie in diese Richtung voran. So konnte es ihnen gelingen, die Oktoberrevolution zum Sieg zu führen, die harten Kämpfe des ersten Arbeiter:innenstaates der Welt zu überstehen, die Sowjetunion und die III. Internationale zu gründen, die dann die revolutionären Bewegungen auf der ganzen Welt unterstütze. Lenins Weitblick war dabei so groß, dass er zum Beispiel mit der Neuen Ökonomischen Politik1 einen konkreten Weg des sozialistischen Aufbaus unter den Bedingungen eines industriell wenig entwickelten und hauptsächlich von Bäuer:innen bewohnten Landes aufzeigen konnte. Aber auch seine Texte über den Bürokratismus im Staatsapparat verweisen bereits auf Probleme, die sich später zu wesentlichen Bedingungen der kapitalistischen Restauration in der Sowjetunion auswachsen sollten.

Die Errungenschaften der sowjetischen Arbeiter:innen und Bäuer:innen unter Führung der Bolschewiki sind sicher beeindruckend, sie begeistern und inspirieren uns zurecht bis heute. Zugleich fällt es aber unter Bedingungen eines nur wenig entwickelten Klassenkampfes in einem Land wie Deutschland schwer, eine direkte und lebendige Verbindung zwischen den Taten russischen Arbeiter:innenklasse unter der Führung der Bolschewiki und Lenins und unserem politischen Kampf herzustellen. Diese fehlende Identifikationsmöglichkeit verführt uns zu zweierlei falschen Reaktionen.

Entweder wir behandeln Lenin wie einen Fetisch, verhalten uns ganz unkritisch zu ihm und versuchen seine Siege zu reproduzieren, indem wir die Wege und Mittel, die zu ihnen geführt haben, mechanisch ins Heute und in die verschiedensten gesellschaftlichen Kontexte übertragen. Oder wir verstehen Lenin als bloße historische Figur, distanzieren uns so sehr von ihm, dass wir gar nicht erst versuchen, seine Leistungen als vorbildhaft zu sehen. In beiden Fällen verschwindet die wirkliche Person Lenin hinter einer falschen Wahrnehmung. In beiden Fällen erleidet der heutige Klassenkampf einen Schaden.

Wollen wir Lenins Werk voll für die Weiterentwicklung kommunistischer Theorie und Praxis heute nutzen, dann müssen wir es aus seiner geschichtlichen Erstarrung befreien. Wir müssen mehr tun, als die noch heute wesentlichen Grundpfeiler kommunistischer Theorie aufzunehmen, die auf Lenin zurückgehen, wie zum Beispiel die Notwendigkeit einer Vorhutorganisation aus kommunistischen Kader:innen oder die verallgemeinerte Analyse des Imperialismus. Zusätzlich können wir von Lenin lernen, aus unserer konkreten Situation abzuleiten, worauf wir unsere politische und theoretische Arbeit konzentrieren sollten. Sein Werk ist unter anderem deshalb so vielseitig, weil die Entwicklung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer Klassenkämpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts enorm dynamisch war und er sich bemühte, diesen Entwicklungen theoretisch und praktisch gerecht zu werden. Mit anderen Worten: Wir müssen Lenins Taten als lebendige Kämpfe begreifen, also in einem untrennbaren Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Bedingungen, in denen sie stattfanden.

Sein eigenes Denken entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen der gesellschaftlichen Kämpfe anzupassen, gelang Lenin einerseits durch eine tiefgehende Kenntnis der marxistischen Wissenschaft, insbesondere durch seine Beherrschung der historisch-materialistischen Dialektik. Nicht zuletzt aber auch, weil er sich selbst nicht – wie es andere revolutionäre Intellektuelle in Westeuropa durchaus taten – auf die Rolle eines Theoretikers im Exil eingrenzte, sondern die Bedeutung Praxis für die Revolution, aber auch um zu korrekten Erkenntnissen zu gelangen, begriff. Auch wenn er einen großen Teil seines Lebens viele tausend Kilometer vom Klassenkampf in Russland entfernt lebte, war er doch über die bolschewistische Organisation mit Kämpfen der Massen und seiner Genoss:innen auf engste verbunden.

Diesen untrennbaren Zusammenhang zwischen den theoretischen Leistungen Lenins (und anderer zentraler Führer:innen der kommunistischen Bewegung) und ihrer Teilnahme am Klassenkampf brachte bereits Mao treffend auf den Punkt:

„Abgesehen von ihrer Genialität, konnten Marx, Engels, Lenin und Stalin ihre Theorie hauptsächlich deswegen aufstellen, weil sie zu ihrer Zeit persönlich an der Praxis des Klassenkampfes und der wissenschaftlichen Experimente teilnahmen; ohne letztere Voraussetzung hätte keinerlei Genialität zum Erfolg führen können.“

Mao2

Lenin und der Klassenkampf

Wir haben gesagt, dass Lenin seine theoretische Arbeit stets nach den brennendsten Fragen des Klassenkampfes ausrichtete. Was wir aber zuerst festhalten müssen, ist, dass der Klassenkampf selbst ein im höchsten Maße dialektischer Prozess ist. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass er nicht linear, gewissermaßen wie auf Schienen mit klarem Ausgang und ohne Umwege, verläuft. Er ist nicht das Ergebnis von Naturgesetzen, die auch ohne unser Zutun wirken, sondern er ist der Kampf denkender Menschen, die stetig Entscheidungen treffen müssen.

Das heißt umgekehrt nichts anderes, als dass der Sieger des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat nicht feststeht. In jeder einzelnen Schlacht gewinnt die theoretisch und praktisch überlegene, intelligentere, besser organisierte Klasse. Rückschläge, Niederlagen, auch gewaltige historische Katastrophen wie Weltkriege und Völkermorde sind immer möglich, solange die Klassengesellschaft nicht aufgehoben ist.

Und selbst, dass letztendlich das Proletariat siegen wird, steht nicht fest. Der Kapitalismus kann auch die Menschheit auslöschen, zum Beispiel über die Zerstörung der Natur. Das ist eine wirkliche Möglichkeit, die wir ernst nehmen müssen. Wir können uns also nicht auf einen gesicherten Ausgang des Klassenkampfes verlassen.

Die historische Notwendigkeit des Kommunismus kann nur durch von uns energisch geführten Klassenkampf Realität werden. Lenin war das immer klar, darin unterscheidet er sich von der Mehrheit der Marxist:innen seiner Zeit, die von einem bereits sicheren Sieg des Proletariats ausgegangen sind.

Die Praxis des Klassenkampfes als Kriterium der Wahrheit

Genau ein solches blindes Vertrauen in den letztendlichen Sieg der Arbeiter:innenklasse, komme was da wolle, war aber ein ideologischer Anknüpfungspunkt für das Abgleiten vom revolutionären Klassenkampf. Es ist kein Zufall, dass wir gerade bei den marxistischen Theoretikern der II. Internationale, die am prägendsten für das damalige Verständnis der Arbeiter:innenbewegung waren, diese Überzeugung von der undialektischen historischen Notwendigkeit des Kommunismus besonders stark ausgeprägt finden. Eduard Bernstein, der erste große Theoretiker der revisionistischen Strömung, begründete seine berüchtigte These, dass der Weg ihm alles und das Ziel (also der Kommunismus) nichts sei, weil er davon ausging, dass das Ziel ohnehin unabwendbar sei.

Auch wenn in letzter Instanz materielle Ursachen, also die Lage der Arbeiter:innenklasse, der Imperialismus und die Entstehung der Arbeiter:innenaristokratie die entscheidenden Grundlagen für die Entstehung des Revisionismus3 waren, stellte dieses mechanische Denken einen Ansatzpunkt für die Rechtfertigung einer rein reformistischen Praxis dar. Ganz nach dem Motto: Wir brauchen uns um nichts als die unmittelbar erreichbaren Zugeständnisse der Kapitalisten zu kümmern, der Rest kommt dann schon von selbst. Der „Rest“, also die sozialistische Revolution, kommt eben nicht von selbst, sondern muss bewusst und organisiert erstritten werden.

Die Kehrseite dieses historischen Fatalismus, bei dem der Ausgang jedes Kampfes immer schon klar ist, begegnet uns heute. Und zwar in der weit verbreiteten Hoffnungslosigkeit. So wie die Theoretiker:innen der II. Internationale den Sieg des Kommunismus als unabwendbar annahmen, fehlt es vielen Kämpfer:innen unserer Bewegung letztlich an der festen Überzeugung, dass der Sieg oder auch nur die Revolution als Ereignis eintreten wird.

So wie bei Bernstein die zum Glaubenssatz übersteigerte These von der historischen Notwendigkeit des Kommunismus einen Ansatzpunkt für den Revisionismus bot, waren es bei anderen Teilen der Sozialdemokratie andere Elemente der marxistischen „Lehre“, die sich zu diesem Zeitpunkt herausgebildet hatte.

Ein prominentes Beispiel ist die Überzeugung, dass die Weltrevolution in den entwickeltesten kapitalistischen Ländern beginnen müsse. Sie wurde von vielen Sozialdemokrat:innen und selbst russischen Revolutionär:innen als Begründung missbraucht, um sich von der Oktoberrevolution abzuwenden und sie als historische „Fehlgeburt“ zu verleumden.4

Eines der größten Verdienste der Bolschewiki und insbesondere von Lenin und Stalin bestand gerade darin, dass sie, als sich diese Erwartung nicht erfüllte und der Arbeiter- und Bauernstaat in Russland und der Sowjetunion zunächst allein blieb, nicht an dem Dogma festhielten, dass in diesem Land kein Sozialismus zu machen wäre. Stattdessen suchten sie nach konkreten Lösungsansätzen, um auch unter diesen Bedingungen, die niemand vorhergesehen hatte, die proletarische Diktatur zu behaupten und einen Weg zum Sozialismus zu bahnen. Gerade in dieser Hinsicht heben sie sich positiv von diversen anderen Theoretiker:innen der Arbeiter:innenbewegung ab, die rechts und links von ihnen an einem dogmatisierten Schema darüber, wie die Geschichte zu verlaufen habe, festhielten.

Möglich wurde diese Leistung Lenins auch wegen seiner kritischen Haltung gegenüber allen Autoritäten der Arbeiter:innenbewegung. Dadurch gelang es gerade dann, wenn der Klassenkampf und auch die entsprechenden inneren Konflikte der Arbeiter:innenbewegung besonders scharfe Formen annahm, den Kurs auf die revolutionären Ziele der kommunistischen Bewegung zu halten, während andere „große Führer“ der Bewegung davon abkamen.

So war Karl Kautsky zu Beginn des 20. Jahrhunderts die wohl größte Autorität der revolutionären Linken Europas und auch Lenin war in der Tat tief von dessen Denken und der Praxis der deutschen Arbeiter:innenbewegung beeinflusst. Als aber Kautsky bei Ausbruch des ersten Weltkrieges die Revolution verriet, sich hinter die deutsche Bourgeoisie stellte, die Politik des Burgfriedens unterstützte und damit zum ideologischen Vorbild der Mehrheit der Parteien der II. Internationale wurde, stellte sich Lenin gegen Kautsky.

Nicht nur schrieb er beißende Polemiken gegen die nun rechten Sozialdemokraten – Schriften wie Staat und Revolution, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus und viele mehr – er suchte auch nach den tiefsten gesellschaftlichen Wurzeln dieser Katastrophe und fand sie in der Verwandlung des Kapitalismus der freien Konkurrenz in den imperialistischen, den Monopolkapitalismus.

Ein anderes Beispiel: Als eine der Gründungsfiguren des Marxismus in Russland, Georgi Plechanow, im Vorfeld der Revolution von 1905 zu den Menschewiki überging und sich gegen die proletarische Revolution in Russland stellte, brach Lenin mit ihm. Auch Plechanow war ein Mann, der Lenin tief beeinflusste und langanhaltende Spuren in der russischen Arbeiter:innenbewegung hinterließ, den Lenin über Jahre als eine Art „Lehrer“ betrachtet hat. Aber als der Klassenkampf über den Bewusstseinsstand Plechanows hinausstrebte, half es nichts, Lenin musste mit ihm brechen. Und auch hier fand er bald, im Zuge seiner Studien der Hegelschen Dialektik, die tieferen, theoretischen Wurzeln des Problems und musste sich eingestehen, dass Plechanow es nie zum wirklichen Marxisten gebracht hatte, unter anderem weil er die materialistische Dialektik nur oberflächlich verstand: „Die Dialektik ist eben die Erkenntnistheorie (Hegels und) des Marxismus: gerade diese ‚Seite’ der Sache (es ist nicht eine ‚Seite’, sondern das Wesen der Sache) ließ Plechanow, von anderen Marxisten ganz zu schweigen, unbeachtet.“5

Bei Lenin wird die Kritik der Autoritäten zum Motor der theoretischen Entwicklung. Dies gelang, gerade weil für ihn die Notwendigkeiten des proletarischen Klassenkampfs maßgeblich waren und weil es ihm somit möglich wurde, das Ziel des Klassenkampfes mit seinen notwendigen Zwischenschritten zu verbinden.

Wie weit spannt man einen Bogen?

Mit jeder bedeutenden Schrift Lenins waren auch konkrete Ziele verbunden, die Bewegung und die eigene Partei in diese oder jene Richtung zu beeinflussen. Die davon abgeleitete Taktik auf theoretischem Gebiet beschreibt Tony Cliff wie folgt:

„Auf jeder Stufe des Kampfes suchte Lenin nach dem, was er das Schlüsselglied in der Kette der Entwicklung nannte. Dann betonte er wiederholt die Bedeutung und Wichtigkeit dieses Kettenglieds, dem alle anderen untergeordnet werden mussten. Nachdem der Moment vorbei war, sagte er: „Wir haben es übertrieben. Wir haben den Bogen zu sehr überspannt“, womit er nicht meinte, dass es falsch gewesen wäre, das zu tun. Um die jeweilige Hauptschlacht zu gewinnen, war es notwendig, alle Kräfte auf diese Aufgabe zu konzentrieren.“6

Lenin war dabei bewusst, dass er trotz der Autorität, die er ab einem bestimmten Zeitpunkt genoss, nicht die allein ausschlaggebende Kraft in der Bewegung und der Partei war, vielmehr wusste er, dass die letztlich aus den inneren Kämpfen resultierende Politik das Ergebnis der Überkreuzung verschiedener Positionen und mehr oder weniger starken, bewussten oder unbewussten Traditionen sein würden. Diesen letztendlichen Kompromiss versuchte er jedoch auch durch Überspitzungen bewusst so zu gestalten, wie es seiner Einschätzung nach den Bedürfnissen der revolutionären Entwicklung am dienlichsten wäre.

Diese Methode formuliert er auch selbst, zum Beispiel in einer rückblickenden Betrachtung seiner Auseinandersetzung mit dem Ökonomismus:

„Wir alle wissen jetzt, daß die Ökonomisten den Bogen nach der einen Seite überspannt haben. Um ihn wieder auszurichten, mußte man ihn nach der anderen Seite spannen, und das habe ich getan. Ich bin überzeugt, daß die russische Sozialdemokratie den durch alle Art von Opportunismus verzerrten Bogen stets energisch wieder ausrichten wird und daß unser Bogen deshalb immer der straffeste und aktionsfähigste sein wird.“7

Auf diese Weise konnte Lenin Fehlentwicklungen in der Bewegung entgegenwirken, sich durch die komplexen Verschlingungen des Klassenkampfes bewegen, ohne sich darin zu verheddern. Der Klassenkampf selbst und das Festhalten am Ziel des Kommunismus erlaubten diese ständige Verlagerung der Kräfte auf die jeweilige Hauptaufgabe, so dass die Verlagerung selbst die Bewegung immer näher an das Ziel heranführen konnte, anstatt sie abzuleiten in die eine oder andere Abweichung – sei das der Ökonomismus (Was Tun?), der philosophische Revisionismus (Materialismus und Empiriokritizmus), oder ultralinkes Abenteurertum (Der linke Radikalismus).

Für das Studium der Werke Lenins leitet sich daraus aber ein Problem ab, das auch beim Studium andere Texte zu beachten ist: „Autoritätsargumente über Zitate sind nirgends weniger gerechtfertigt als im Falle Lenins. Wenn er hinsichtlich irgendeiner taktischen oder organisatorischen Frage zitiert wird, muss absolut klar sein, welches konkrete Problem sich die Bewegung zum jeweiligen Zeitpunkt stellen musste.“8 Das gilt sowohl für die Kritiker:innen als auch für die Anhänger:innen Lenins. Denn das aus dem Zusammenhang der konkreten Klassenkämpfe gerissene Zitieren ist kein exklusives Merkmal von Anti-Leninist:innen und bürgerlichen Ideolog:innen, es ist auch ein traditionelles Problem kommunistischen Bewegung – und das nicht nur im Umgang mit Lenins Werk. Eine solche Methode führt zur schematischen Übertragung abstrakter Muster in veränderte gesellschaftliche Situationen.

Ein typisches Beispiel hierfür ist das schematische Übertragen der historischen Zirkelphase im Parteiaufbau, wie sie in Russland durchlebt wurde, auf die Bedingungen heute in Deutschland samt Lenins Plan für den Parteiaufbau. Andere bestehen in der bloß dogmatischen Verteidigung der Imperialismusanalyse, die sich ihrer Weiterentwicklung verschließt, sowie der Behauptung, dass die Arbeit im Parlament und den gelben Gewerkschaften offensichtlich notwendiger Teil der kommunistischen Arbeit sein müsste, weil Lenin das vermeintlich in seiner Schrift „Der Linke Radikalismus“ vertreten habe. Lenin gerinnt in solchen Fällen zum bloßen Autoritätsargument.

Die Leninsche Leitlinie der konkreten Analyse der konkreten Situation wird so zur Farce und der Klassenkampf wird behindert. Wir dürfen diesen Fehler nicht wiederholen, sondern müssen uns klar machen, dass wir von Lenin nur lernen können, wenn wir sowohl ein Verständnis der Klassenkämpfe haben, die sein Denken bestimmten, als auch eine konkrete Analyse unserer eigenen historischen Situation.

Lenin und die materialistische Dialektik

Wir sind wiederholt auf die historisch-materialistische Dialektik und ihre Bedeutung zu sprechen gekommen. Wir haben gesehen, dass Lenin andere Arbeiter:innenführer wie Plechanow für ihre mangelnde Durchdringung der Bedeutung der historisch-materialistischen Dialektik kritisierte. Wir wollen uns zwei Momente des Klassenkampfes genauer ansehen, in denen diese Bedeutung noch klarer hervortritt.

Die Russische Revolution von 1905 und die Krise der Bewegung

Auf die Niederschlagung der Revolution von 1905–06 folgte zunächst die Stolipynsche Reaktion und eine Phase des Rückzugs der revolutionären Bewegung.9 Desillusionierung machte sich unter den russischen Revolutionär:innen breit, und damit öffnete sich ein bedeutender Spielraum für den Einfluss bürgerlicher Ideologie. Zugleich befand sich die Physik in einer Krise, ausgelöst durch die Entdeckung der Relativitätstheorie. Es schien, als ginge die Materie selbst in ihrer Wandelbarkeit in Energie verloren. Es entwickelte sich eine Krise des marxistischen Denkens in Russland. Die Philosophien des Empiriokritizismus10 entstanden, die ihre bolschewistischen Vertreter für eine Vertiefung der marxistischen Philosophie hielten. Ihr wachsender Einfluss war für Lenin ein wichtiges Zeichen, dass er einen philosophischen Gegenangriff führen musste.

Die Details des daraus entstandenen Buches, Materialismus und Empiriokritizismus, sind für uns an dieser Stelle nicht entscheidend. Betont werden muss aber, dass Lenin sich auch hier von den Bedürfnissen des Klassenkampfs leiten ließ. Es sah, dass die idealistische Strömung, die in die krisenhafte Arbeiterbewegung einfloss, eine Gefahr für die Fortsetzung des Klassenkampfes darstellte. Denn was mit der Materie zugleich infrage gestellt wurde, waren die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die theoretischen Grundlagen des Klassenkampfes.

Was Lenin gelang, war die Erkenntnis der politischen Folgen einer zunächst rein philosophischen Form des Revisionismus. Hier wiederholte sich auch eine Lektion, die schon Marx und Engels lernen mussten. Auch sie waren mit einer philosophisch vermittelten Krise der Arbeiter:innenbewegung konfrontiert, als die Philosophie Eugen Dührings in die Führung der deutschen Arbeiter:innenbewegung einzog. Sie waren genötigt, sich wieder mit philosophischen Fragen zu beschäftigen, die sie eigentlich für durch den Marxismus selbst überwunden hielten. Lenin ging nun weiter und erkannte die tiefere Bedeutung der Philosophie für die Arbeiter:innenbewegung. Er verteidigte speziell den Materialismus, weil der Angriff vom Idealismus ausging. Aber er gewann in dieser Auseinandersetzung eine bedeutende Wertschätzung philosophischer Fragen, die ihn später zu Hegel greifen ließ als der Weltkrieg und die Krise der II. Internationale ausbrach. Die Philosophie kann ein Einfallstor für Revisionismus sein, sie kann aber auch zu einem Mittel der Abwehr gegen den Revisionismus werden, wenn man sie marxistisch versteht und zu nutzen weiß.

In ähnlicher Weise können wir in den letzten Jahrzehnten den wachsenden Einfluss neuer Formen bürgerlich-idealistischer Philosophie und ihre Wirkung bis weit in die politische Widerstandsbewegung hinein beobachten. Der Postmodernismus stellt heute eine zentrale Achse dar, auf der ideologische Angriffe gegen den Marxismus-Leninismus vorgetragen werden. Mittlerweile wird durch ihn die Notwendigkeit einer revolutionären Arbeiter:innenbewegung überhaupt offensiv in Frage gestellt.

Der erste Weltkrieg, die Krise der II. Internationale, und ein toter Hund

1914 ereignet sich eine doppelte Katastrophe. Der erste Weltkrieg beginnt und beinahe alle europäischen Arbeiter:innenparteien, beinahe die gesamte II. Internationale stellt sich auf die Seite ihrer nationalen Bourgeoisie und treibt die Arbeiter:innenklasse in dieses gewaltige Schlachthaus. Jahrzehnte der revolutionären Vorarbeit schienen auf einen Schlag nichtig geworden zu sein. Das Gewicht dieser Ereignisse ist heute, in Zeiten, in denen wir an ein Jahrhundert sozialdemokratischen Verrats und Konterrevolution gewöhnt sind, schwer zu ermessen. Es traf die revolutionären Kräfte, obwohl sie einen jahrzehntelangen Kampf gegen die bürgerlichen Kräfte innerhalb der Arbeiter:innenbewegung geführt hatten und um die Gefahr deren Sieges wussten, wie ein Schlag. Wie reagierte Lenin? Er zog sich in die Studierstube zurück und nahm das Studium eines der schwierigsten Bücher der Philosophiegeschichte auf; von einem Philosophen, der vom Bürgertum und den Führer:innen der Arbeiterbewegung gleichermaßen für einen toten Hund erklärt worden war: Er studierte Hegels Wissenschaft der Logik.

Das mag auf den ersten Blick verblüffen. Die Welt brennt, das Proletariat wird vom Monopolkapital zum Kanonenfutter zur Durchsetzung seiner Interessen gemacht und Lenin zermartert sich das Hirn über Hegels Dialektik. Zugegebenermaßen erschöpft sich seine Aktivität in dieser Zeit nicht einfach in diesem Studium. Er führt zugleich gemeinsam mit Grigori Sinowjew11 einen hitzigen theoretischen Kampf gegen die rechten Führer der Sozialdemokratie, geht ihren politischen Verirrungen nach und stellt sie vor dem Proletariat bloß.12 Und doch ist dieser Rückgriff auf den „toten Hund“ Hegel zunächst überraschend.

Dahinter liegt die Erfahrung der Folgen der Revolution von 1905. Lenin ist nun klar, dass der Verrat und Zusammenbruch der II. Internationale tiefere Gründe haben muss, die auch philosophisch erfasst werden müssen. Das Marxismusverständnis der Sozialdemokratie konnte nicht mit der wirklichen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft schritthalten. Lenin wurde bewusst, dass ein wesentlicher theoretischer Mangel dieser gesamten Tradition in ihrer unzureichenden Durchdringung vor allem der dialektischen Seite der marxistischen Wissenschaft lag. Und schon Marx hat darauf hingewiesen, dass man Hegel nicht straflos beiseite wirft, wenngleich er seinen fundamentale Differenz zu dessen Methode betonte.13

Auch die späten philosophischen Populärschriften von Engels sind stark darum bemüht, der deutschen Arbeiter:innenbewegung die Bedeutung des Erbes der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel zu verdeutlichen.14 Lenin nimmt diesen Wink nun vollends ernst, ohne dabei den Unterschied zwischen Marxismus und Hegelianismus zu vergessen.

Lenin studiert Hegel also kritisch.15 Er eignet sich ein tieferes Verständnis der Dialektik an, indem er zugleich die objektiv-idealistische Dialektik Hegels vom materialistisch-proletarischen Standpunkt aus kritisiert, ihr die Halbheiten nachweist, zeigt, wo sie in Aberglauben zurückfällt. Lenin reproduziert im Verlaufe dieser Kritik wesentliche Momente der Kritik von Marx an Hegels Dialektik, die er gar nicht kennen konnte, weil die entsprechenden Texte noch nicht veröffentlicht waren.16

Wir können hier nur einige Momente dieser Entwicklung nennen: Lenin beschäftigt sich in seinen Studien eingehender mit dem Konzept der „Vermittlung“ bei Hegel. Wie hängt unser Denken mit der Wirklichkeit zusammen, wie beweist sich die Wahrhaftigkeit unseres Denkens? Die Antwort: über die Praxis. „die Praxis des Menschen, milliardenmal wiederholt, prägt sich dem Bewußtsein des Menschen als Figuren der Logik ein. Diese Figuren haben die Festigkeit eines Vorurteils, ihren axiomatischen Charakter gerade (und nur) kraft dieser milliardenfachen Wiederholung.“17 Das heißt, die Praxis hat die doppelte Bedeutung, zum einen die Formen unseres Denkens zu erzeugen, und die, ihre Wahrhaftigkeit auf die Probe zu stellen. Beide Seiten sind ineinander verschlungen.

Wichtig ist hier zudem, dass der Praxis nicht nur die in der marxistischen Philosophie recht gut bekannte Rolle als „Kriterium der Wahrheit“ zugesprochen wird. Die Praxis wird vielmehr selbst zur entscheidenden Quelle von Erkenntnissen. Wir sollte daher auch in unseren heutigen Kämpfen versuchen, daran anknüpfend, die eigene Praxis mehr zum Ausgangspunkt theoretischer Untersuchungen zu machen. Auf diese Weise wäre die Spiralbewegung von Theorie und Praxis gewahrt. Die Theorie erhält ihre konkrete Form durch ihren Bezug auf die Praxis und die Praxis entwickelt sich durch ihre theoretische Kritik und Verallgemeinerung. Diese Spiralbewegung muss hergestellt werden, Theorie und Praxis dürfen sich nicht voneinander entfremden.

Genau diese Entfremdung, dieses bloße Nebeneinanderlaufen von Theorie und Praxis zeichnet aber heute weite Teile der kommunistischen Bewegung in Deutschland aus. Die notwendig aus dieser Entfremdung folgende Einseitigkeit wird zu allem Überfluss dann noch durch eine auch an Personen gebundene Arbeitsteilung in Kopf- und Handarbeit auf die Spitze getrieben. Als Kommunisten muss es uns aber vor allem um die Überwindung dieser Entfremdung gehen, schon im revolutionären Prozess hier und heute.

Die Dialektik von Schein und Wesen ist ein weiterer Aspekt, dem sich Lenin annimmt.18 Er erkennt, dass wir weder den Schein für das Wesen der Dinge nehmen können noch Schein und Wesen für völlig unverbundene, voneinander getrennte Phänomene halten dürfen. Würden Schein und Wesen stets völlig identisch sein, dann wäre die wissenschaftliche Forschung nicht mehr notwendig, alle Tatsachen lägen offen auf der Hand. Der Schein kann uns zum Wesen einer Sache führen, wenn es uns gelingt, die Verbindung zwischen beidem wissenschaftlich zu erforschen.

Ein Beispiel für einen solchen Erkenntnisprozess wäre, dass Lenin den Revisionismus der II. Internationale bis zu seinem wesentlichen Grund, nämlich der qualitativen Verwandlung des Kapitalismus der freien Konkurrenz in den Monopolkapitalismus, zurückverfolgt. Dadurch wurde es möglich, dass sich eine Schicht von relativ wohlsituierten Arbeiter:innen, die Arbeiteraristokratie, innerhalb der Arbeiter:innenklasse herausbildete, zu deren politischen Vertretern sich die Sozialdemokratie entwickelte. Mit dem Aufdecken der materiellen Grundlage des Revisionismus in der Arbeiter:innenbewegung wird zugleich deutlich, dass die Überwindung von falschen Weltanschauungen wie des Revisionismus nur über die Umwälzung der Klassengesellschaft gelingen kann. Lenin selbst beschreibt im später verfassten Vorwort des Texts Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus diesen Zusammenhang:

„Daß der Imperialismus der Vorabend der sozialistischen Revolution ist, daß der Sozialchauvinismus (Sozialismus in Worten, Chauvinismus in Taten) gleichbedeutend ist mit dem völligen Verrat am Sozialismus, mit dem vollständigen Übergang auf die Seite der Bourgeoisie, daß diese Spaltung der Arbeiterbewegung im Zusammenhang steht mit den objektiven Bedingungen des Imperialismus u.dgl. m. – darüber mußte ich in einer „Sklaven“sprache reden […]“19

Lenin sah den Revisionismus der II. Internationale, dieses revisionistische Denken war eine der gedanklichen Erscheinungsformen des qualitativ neuen Wesens des Kapitalismus, des Imperialismus. Indem Lenin diesem Wesen, der Verwandlung des Kapitalismus in den Imperialismus, nachspürte, um den Revisionismus zu verstehen, kam er dazu, die innere Verbindung zwischen Revisionismus und Imperialismus, also zwischen Schein und Wesen zu begreifen. Weil es der Imperialismus ermöglicht, die Arbeiteraristokratie zu erzeugen, wendet sich das Denken dieser Schicht und ihrer Vertreter von der Revolution ab. Die Rechtfertigung des Kapitalismus bis zur Rechtfertigung selbst der Weltkriege innerhalb der Arbeiter:innenbewegung hat also eine gesellschaftliche Wurzel, die Lenin entdeckt hat.

Auch in dieser Hinsicht sollten wir uns an Lenin ein Vorbild nehmen. Wir können die Phänomene nicht einfach akzeptieren, wie sie sind. Sondern wir müssen die Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung, ihr Wesen, erforschen. Wenn uns das gelingt, können wir auch den Schein erklären.

Die Erfahrungen der Massen als Quelle von Erkenntnissen

Doch nicht nur die Veränderungen in den objektiven Bedingungen oder die politischen Zusammenstöße mit den Revisionist:innen in der Arbeiter:innenbewegung haben Lenin bei der Auswahl der Themen, die er in seiner theoretischen Arbeit aufgreift, beeinflusst.

Seine Ideen schöpfte er auch aus einem genauen Studium des Klassenkampfes und der Praxis der Massen selbst. Ein besonders schönes Beispiel für diese Arbeitsweise finden wir im Text „Die Große Initiative“ aus dem Juni 1919.

Lenin greift hier verschiedene Schilderungen der „kommunistischen Subbotniks“ begeistert auf und hebt das Heldentum der gleichzeitig Hunger leidenden Arbeiter:innen bei ihren freiwilligen Arbeitseinsätzen hervor.

Der Begriff leitet sich vom russischen „Subbota“ (Samstag) ab. Er beschreibt die Initiative von kommunistischen Arbeiter:innen im Bürgerkrieg zur Verteidigung der Revolution, ohne Bezahlung zusätzliche Arbeitseinsätze an Samstagen zu organisieren. Diese fanden in für die Aufrechterhaltung der Front besonders kritischen Betrieben statt und bezogen auch ungelernte Arbeiter:innen und kommunistische Funktionäre des Staatsapparats ein. Ihren Anfang nahm die Bewegung unter den Moskauer Eisenbahnern und dehnte sich ausgehend von diesem Vorbild auf den Rest des Landes aus.

Hierin erblickt er den Keim des Kommunismus:

„Der Kommunismus beginnt dort, wo einfache Arbeiter in selbstloser Weise, harte Arbeit bewältigend, sich Sorgen machen um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, um den Schutz eines jeden Puds Getreide, Kohle, Eisen und anderer Produkte, die nicht den Arbeitenden persönlich und nicht den ihnen ‚Nahestehenden‘ zugute kommen, sondern ‚Fernstehenden‘, d.h. der ganzen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit […]“20

Aber dabei bleibt er nicht stehen. Seine nur knapp dreißig Seiten lange Arbeit entwickelt von diesem praktischen Beispiel ausgehend eine Analyse zahlreicher Probleme des sozialistischen Aufbaus. Von der Schaffung einer neuen sozialistischen Arbeitsdisziplin bis zur Befreiung der Frau, von der Reinigung der Partei von Bürokrat:innen bis zum Verhältnis zwischen Partei und parteilosen Massen.

Man sieht an diesem Beispiel sehr anschaulich, wie die gesellschaftliche Praxis der Arbeiter:innenklasse für Lenin zur Erkenntnisquelle wird, wie wir es im letzten Abschnitt aufgezeigt haben. An seinen eigenen Partei-Genoss:innen kritisiert er hingegen, dass sie genau diese Aufmerksamkeit vermissen lassen, und fordert sie von ihnen ein.

Allerdings überhöht Lenin die Subbotniks auch nicht zu einem perfekten und allein ausreichenden Mittel zum Sieg über die Muttermale der alten kapitalistischen Gesellschaft in den Gedanken und Gefühlen der Arbeiter:innenklasse. Vielmehr leitet er ihre Bedeutung daraus ab, dass es sich um eine Initiative der Massen an der Basis der Kommunistischen Partei handelt. Er erwartet, dass sich noch viele derartige Beispiele und Experimente anschließen werden und fordert von den Kommunist:innen:

„Wenn ein japanischer Gelehrter, um der Menschheit zu helfen, die Syphilis zu besiegen, die Geduld hatte, 605 Präparate auszuprobieren, bis es ihm gelang, ein 606. Präparat herzustellen, das bestimmten Anforderungen genügte, so müssen diejenigen, die eine noch schwierigere Aufgabe lösen wollen, die den Kapitalismus besiegen wollen, Ausdauer genug haben, um Hunderte und Tausende neuer Methoden, Verfahren, Kampfmittel auszuprobieren, um die geeignetsten von ihnen herauszuarbeiten.“21

Heute bauen wir nicht den Sozialismus auf, heute gibt es nicht hunderttausende Arbeiter:innen, die darüber diskutieren, wie das Überleben einer sozialistischen Republik im Bürgerkrieg gesichert werden kann. Was also hat Lenins Forderung mit uns zu tun?

Auch wir müssen Ausdauer an den Tag legen, um hunderte und tausende Methoden und Kampfmittel zu erproben, bis wir die geeignetsten gefunden haben für die heute konkret vor uns liegenden Aufgaben: Den Aufbau einer Kommunistischen Partei und einer revolutionären Arbeiter:innenbewegung in diesem Land.

Das hierfür notwendige Experiment befindet sich schon im Gange, auch wenn seine quantitative Ausdehnung bescheiden sein mag. Es gilt, die Erfahrungen verschiedener Organisationen, verschiedener Städte, verschiedenster Genoss:innen aus der alltäglichen Massenarbeit in diesem Land systematisch auszuwerten, die besten und erfolgreichsten Methoden aufzugreifen, zu verbessern und zu verallgemeinern.

Es kommen die Erfahrungen von Genoss:innen aus anderen Ländern oder der Vergangenheit der deutschen Bewegung hinzu. Solange wir die spezifischen Bedingungen, unter denen diese gemacht wurden, im Kopf behalten, können auch sie uns als Ausgangspunkt für die Verbesserung unserer eigenen Arbeit dienen. Beim derzeitigen Zustand der Kommunistischen Weltbewegung ist jedoch die gezielte Suche nach diesen Erfahrungen notwendig, um sie uns zugänglich zu machen.

Vom falschen Umgang mit dem Erbe Lenins

Eingangs haben wir das Problem der Fetischisierung Lenins als eine grundlegende Gefahr im Umgang mit ihm behandelt. Dieses Problem hat bestimmte historische Wurzeln. Schon zu Lenins Lebzeiten setzte ein gewaltiger Personenkult in der UdSSR ein, der ihn nach seinem Tod zu einer Erlöserfigur verklärte, wie sie der Marxismus gerade theoretisch überwunden hatte.22 Schon hier setzt ein ganz falscher, ein dem Wesen nach bürgerlicher Umgang mit der Person Lenin ein.

Statt als lebendiger Knotenpunkt im proletarischen Klassenkampf, als Vermittlungsglied im revolutionären Prozess und nur durch diesen verständlich, wird Lenin zum Herrscher über diesen Prozess, zum eigentlichen Akteur des Klassenkampfes verklärt. Weil somit die wirklichen Verhältnisse auf Ebene der Geschichtsschreibung in ihr Gegenteil verkehrt werden, geht der Blick auf die Klassenkämpfe, die die Person Lenin, sein Denken und Handeln, stets bestimmt haben, verloren.

Dieser Prozess der Fetischisierung Lenins, der in den Dogmatismus übergeht, spielte und spielt sich in vielen der Leninistischen Parteien und Organisationen ab. Es handelt sich dabei allerdings nicht um einen bewussten Prozess, sondern um die Entfaltung von Resten bürgerlichen Bewusstseins. Auch führt gerade der Sieg der Bolschewiki unter der Führung Lenins zu dieser Überschätzung einer einzelnen Person. Eine Art von Siegesfetisch bildet sich heraus, durch den wiederum sowohl die wirkliche Praxis in ihrer Komplexität mit Irrwegen, Niederlagen, Siegen und Korrekturen verlorengeht, aber auch besiegte Alternativen gänzlich aus dem Blick der revolutionären Kräfte geraten und oftmals nicht mal mehr in Erwägung gezogen wird, sie produktiv auszuwerten.

Die Systematisierung des Denkens Lenins zum Marxismus-Leninismus, im Zusammenhang mit dem in vielen Ländern nicht ausreichend hohen politischen und ideologischen Niveau der jeweiligen Kommunistischen Parteien, leistete der Tendenz zur Verknöcherung der eigenen Theorie Vorschub.

Es wäre wohlgemerkt oberflächlich, das Problem zum Beispiel der europäischen Kommunistischen Parteien in den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts darauf zu reduzieren, dass sie dem Vorbild der Bolschewiki zu starr gefolgt wären: Schon die Bemühungen zur Bolschewisierung der Komintern blieben in zahlreichen Ländern auf halber Strecke stecken. In der Praxis gelang es in der Regel nicht, sich die Erfahrungen der Bolschewiki in verallgemeinerter Form anzueignen, geschweige denn darüber hinaus zu gehen.

Letztlich jedoch dürfen wir die Aneignung des Marxismus-Leninismus nie von seiner Anwendung auf konkrete Bedingungen trennen. Jeder Versuch, die eine von der anderen Seite zu trennen, muss notwendigerweise scheitern.

Das Problem liegt also nicht in der Anerkennung, dass sich durch Lenins Praxis eine qualitative höhere Stufe der marxistischen Wissenschaft entwickelt hat. Auch liegt es nicht grundsätzlich in der Systematisierung der Theorie. Die Abstraktion von den konkreten Bedingungen ist vielmehr zugleich die Voraussetzung für die erneute Anwendung auf (andere) konkrete Bedingungen.

Die Systematisierung von Theorie ist außerdem stets in der revolutionären Bewegung notwendig gewesen, um ihre Popularisierung zu ermöglichen. Sie hat sich in der Realität wieder und wieder als Notwendigkeit dafür erwiesen, um die Ideen zur materiellen Gewalt werden zu lassen, wie Marx schreibt.

Als Kehrseite schlummert in jeder Systematisierung jedoch die Gefahr, ein geschlossenes theoretisches System von Kategorien und Begriffen zu entwickeln, das man dann der konkreten Wirklichkeit aufpfropft, anstatt es in ihr durch die gesellschaftliche Praxis zu erproben und zu konkretisieren.

Man wähnt sich dann immer schon im Besitz der Wahrheit, hat gar kein Bedürfnis mehr, die Wirklichkeit zu erforschen und neue Theorien und Bewegungsformen aus der sich stets verändernden Gesellschaft abzuleiten. Stattdessen hat man sein starres System, das einen im blinden Vertrauen darauf den Blick auf die Wirklichkeit verstellt. Das jedenfalls, dieser Schematismus, der im Grunde einen Rückfall in den Idealismus bedeutet, ist eine starke Tendenz innerhalb der revolutionären marxistischen Bewegung, vor allem in den imperialistischen Ländern, geworden.

Der Weg zu einem kritischen und kreativen Umgang mit dem Marxismus-Leninismus muss mit der Anerkennung dieses Problems beginnen. Damit besteht auch eine wesentliche Forschungsaufgabe für uns in der Ergründung der Ursachen für die theoretischen und praktischen Probleme unserer Tradition. Wenn wir sie überwinden wollen, genügt das bloße Feststellen der Probleme nicht, wir müssen ihre Wurzeln finden und Mittel und Methoden ihrer Überwindung entwickeln.

Unser Leitfaden darf nicht Lenins aus seinen konkreten historischen Bedingungen gerissenes Werk allein sein, sondern zunächst und zuallererst die gegebene Stufe des proletarischen Klassenkampfes und die konkrete Analyse der konkreten Situation. Nur so kann es gelingen, die im Marxismus-Leninismus verallgemeinerten Erfahrungen der revolutionären Arbeiter:innenbewegung aufzunehmen, sie auf die heutigen Bedingungen anzuwenden und somit weiterzuentwickeln.

Lenin ist für uns deswegen von Bedeutung, weil er uns dabei helfen kann, diese Notwendigkeiten genau zu verstehen und zu meistern. Aber in dem Moment, wo Lenin uns diese Notwendigkeiten selbst ersetzt, irren wir vom richtigen Weg ab und begeben uns auf den Holzweg, der uns im schlimmsten Fall ins Lager des Bürgertums führen kann.

Was wir von Lenin für unsere theoretische Arbeit heute lernen können

Worin also bestehen die brennenden Aufgaben des Klassenkampfes heute, speziell in den imperialistischen Ländern und Deutschland? Diese Frage zu stellen und vor allem sie richtig zu beantworten, setzt schon voraus, sich darauf einzulassen, die konkrete Situation, in der wir uns heute befinden, auch konkret zu analysieren. Wir können im Rahmen dieses Artikels keine erschöpfende Behandlung, noch nicht einmal eine umfassende Liste der Probleme aufstellen, die damit einhergehen, geben.

Wir können aber einige Aufgaben und Fragen nennen, die wir für bedeutend halten, und bei denen uns ein kreatives, undogmatisches Anknüpfen an den lebendigen Lenin des Klassenkampfes helfen kann.

Eines dieser Probleme ist bereits ein grundlegendes Thema dieses Artikels, das Problem des Dogmatismus. Wir müssen uns endgültig von einer dogmatischen Tradition trennen, die uns den Weg im Klassenkampf versperrt, die uns blind für die Wirklichkeit macht und uns die neuen Probleme gar nicht erst erkennen lässt. Das ist sowohl eine theoretische als auch eine praktische Aufgabe. Es bedarf theoretischer Anstrengungen, um die Wurzeln des Dogmatismus zu entdecken und uns die marxistische Wissenschaft wieder anzueignen und weiterzuentwickeln. Es bedarf ebenso einer wirklichen klassenkämpferischen Praxis, damit sich uns die richtigen, die wirklich wichtigen Fragen des Klassenkampfes stellen und wir Antworten entwickeln und erproben können. Gelingt uns das, sind wir schon auf einem guten Weg, die folgenden Probleme angehen zu können.

Eine revolutionäre Strategie muss ausgehend von den heute tatsächlich bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen entwickelt werden. Vorherige erfolgreiche Machtergreifungen wie in Russland oder China spielen hierbei die Rolle lehrreicher Erfahrungen, aber nicht die von einfach nachzuahmenden Mustern.

Schon Gramsci, einer der revolutionären Führer, der sich um eine kreative Anknüpfung an Lenin bemühte, wies darauf hin, dass der bürgerliche Staat in den entwickelten imperialistischen Ländern ungleich viel stärker, tiefer in den Massen verankert und vor allem durch ein breites und tiefes Milieu der bürgerlichen Gesellschaft verschanzt ist. Ein solcher Staat, der durch viel komplexere gesellschaftliche Klassenverhältnisse, durch viel ausgefeiltere ideologische Prozesse gefestigt ist, der über ein viel größeres Arsenal an repressiven und ideologischen Mitteln verfügt als der zaristische, lässt sich nicht so einfach umwerfen, so viel ist klar. Da wir uns heute mit hochgerüsteten, konterrevolutionären Staatsapparaten konfrontiert sehen, die sich auf über 150 Jahre konterrevolutionäre Erfahrung stützen, müssen auch wir uns ganz grundlegend Gedanken über revolutionäre Strategie machen.

Um dieses Neudenken der Revolution zu bewerkstelligen, benötigen wir zunächst eine konkrete Analyse des modernen Staates und der jeweils konkreten Gesellschaftsformation. Erst aus diesen Analysen lässt sich eine wissenschaftliche Revolutionstheorie ableiten, ebenso wie eine konsequent revolutionäre politische Linie. Dazu gehört es auch, die neuen Produktionsverhältnisse genau zu untersuchen: Was bedeutet es für das Bewusstsein und die möglichen Organisationsformen der Arbeiter:innenklasse, wenn sie immer mehr im Pflege-, Dienstleistungs- und Distributionsbereich arbeitet, wenn sie immer weniger in größeren Produktionsprozessen zusammenkommt, wenn die Arbeitsverhältnisse immer flüchtiger werden und sich eine längere personelle Kontinuität kaum herausbilden kann?

Wir haben betont, dass es Lenin wiederholt gelang, neue Formen der revisionistischen Ideologie zu enttarnen, zu kritisieren und auf ihre gesellschaftlichen Wurzeln zurückzuführen. Angesichts der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse sollte uns die Entstehung neuer ideologischer Formen nicht wundern. Wir müssen sie daher ausfindig machen und auf ihre gesellschaftlichen Ursprünge zurückführen. Gelingt das, so versetzen wir uns nicht nur in die Lage, den ideologischen Kampf erfolgreich zu führen, sondern vertiefen zugleich unser Verständnis der Klassengesellschaft, in der wir leben.

Im Zusammenhang mit diesem Problem steht auch die Frage, wie wir das theoretische Niveau unserer Organisationen und letztlich das der Arbeiter:innenklasse als Ganzer wieder anheben können. Das ist eine weitere der Kernfragen, mit deren Lösung die Lösung aller übrigen Fragen wesentlich erleichtert wird.

Vieles spricht dafür, dass der Weg zu diesem Ziel nicht beschritten werden kann, indem wir uns nur ehrfurchtsvoll vor dem gewaltigen und umfangreichen theoretischen Erbe unserer Vorkämpfer:innen verneigen und uns bemühen, uns dieses so intensiv wie möglich anzueignen. Zwar ist das notwendig, jedoch müssen unsere theoretische Arbeiten, genau wie es bei Lenin der Fall war, stets der Weiterentwicklung unserer konkreten revolutionären Arbeit dienen. Das ist die wichtigste Garantie dagegen, nicht in rein akademische Diskussionen abzugleiten und stattdessen den Marxismus-Leninismus als Wissenschaft anzuwenden, der die gesellschaftliche Wirklichkeit erforscht.

Eine letzte Aufgabe, die wir nennen wollen, ist das Wiederanknüpfen an unsere gebrochenen revolutionäre Traditionslinie. Der letzte größere Versuch, eine Vorhutpartei zu schaffen, die diesen Namen auch verdient, stellte die letztlich gescheiterte K-Gruppen-Bewegung der 1960er und -70er Jahre dar. Die Gründe für dieses Scheitern müssen genau erforscht werden, ebenso wie vorangegangene Versuche den deutschen Imperialismus auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Hier liegen noch wesentliche historische Lektionen für unsere eigenen Versuche dieser Art verborgen. Wie kann die Anknüpfung an diese Erfahrungen gelingen?

Sie muss erstens in der Analyse und Kritik dieser Erfahrungen bestehen. Hierbei müssen wir jedoch auch aus den analysierten Fehlern lernen, so wie an richtigen Aspekten anknüpfen und Lehren für heute ziehen. Dies ist auch notwendig, um bewusst mit einem Teil der Traditionen unserer Bewegung zu brechen. Ohne eine solche Analyse aber drohen wir, unbewusst Fehler zu wiederholen, die Genoss:innen vor uns schon begangen haben. Bisher wurde diese Aufgabe nicht im ausreichenden Maße erfüllt. Die bürgerliche Geschichtsschreibung wird uns diese Aufgabe aber nicht abnehmen.

Die Aufgaben sind groß und zahlreich und sie werden nicht weniger werden. Wir können uns nicht allein auf das Wissen der historischen Arbeiter:innenbewegung verlassen. Vielmehr müssen wir den lebendigen Anstoß darin erkennen, um daran anknüpfen zu können. So wie es uns gelingt, unsere revolutionäre Praxis auf diesem Wege zu verbessern und weiterzuentwickeln, so wird unser Selbstbewusstsein steigen. Wir können uns so auch vom weitverbreiteten Defätismus befreien, der noch so viele aufrichtige Revolutionär:innen hemmt:

„Ein Kommunist, dem es einfiele, sich auf Grund der ihm übermittelten fertigen Schlußfolgerungen mit dem Kommunismus zu brüsten, ohne selbst eine sehr ernste, mühselige, große Arbeit zu leisten, ohne sich in den Tatsachen zurechtzufinden, zu denen er sich kritisch zu verhalten verpflichtet ist — ein solcher Kommunist wäre eine recht traurige Gestalt.“23

1Während des Bürgerkriegs, der durch die Oktoberrevolution eingeleitet wurde, war der junge Sowjetstaat zu verschiedenen Zwangsmaßnahmen und einer streng zentralisierten Verteilung aller Ressourcen gezwungen. Schon während des Bürgerkriegs wurde jedoch deutlich, dass brüchige Bündnis zwischen Arbeiter:innenklasse und Bauernschaft diese Wirtschaftspolitik nicht auf Dauer überstehen würde. Lenin korrigierte daraufhin mit der Durchsetzung der Neuen Ökonomischen Politik die in seiner Partei und bei ihm selbst vorherrschenden utopischen Vorstellungen, man könne direkt vom Kriegskommunismus zu einer zentral geplanten sozialistischen Planwirtschaft übergehen. Stattdessen wurden bestimmte kapitalistische Wirtschaftsformen in einem begrenzten Maße wiederzugelassen, um zunächst eine gewisse wirtschaftliche Erholung zu ermöglichen. Die Phase der Neuen Ökonomischen Politik wurde dann im Laufe der 20er-Jahre schrittweise durch den gezielten Ausbau der sozialistischen Wirtschaftssektoren abgelöst.

2Über die Praxis in Ausgewählte Werke Band I, S. 352.

3Unter Revisionismus verstehen wir alle Versuche, den wesentlichen revolutionären Kern des Wissenschaftlichen Sozialismus zu beseitigen, während dabei behauptet wird, ihn anzupassen, weiterzuentwickeln oder dergleichen mehr.

4Karl Kautsky: Terrorismus und Kommunismus. „Es war das große Verdienst der Marxisten in Rußland, geführt von Axelrod und Plechanoff, dieser Auffassung gegenüber sich zur Erkenntnis durchzuringen und sie in langen und mühsamen Kämpfen zur Geltung zu bringen, daß bei der unentwickelten Gestalt des russischen Proletariats und der russischen Gesellschaft überhaupt die unvermeidliche Revolution zunächst nur einen bürgerlichen Inhalt haben könne, wenn auch das Proletariat berufen sei, in ihr eine hervorragende Rolle zu spielen.“ Siehe: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1919/terror/8-kommunisten.htm.

5Zur Frage der Dialektik in: Lenin Werke, Band 38, S. 343. Das ist nur eine exemplarische Aussage, Lenin kehrt im Verlaufe seiner Hegel-Studien immer wieder zur Kritik Plechanows zurück.

6Cliff, Tony, Lenin Volume 1: Building the Party, Pluto Press: London, 1975, S. 67.

7 Rede zum Parteiprogramm 22. Juli (4. August) in: Lenin Werke 6, S.490

8 Cliff, Tony, Lenin Volume 1: Building the Party, Pluto Press: London, 1975, S. 67. Cliff bringt ein weiteres wichtiges Beispiel für das Umschwenken Lenins im Falle von Was tun?: Studie über Rosa Luxemburg, edition aurora: Frankfurt am Main, 2000, S. 42 – 44. Allerdings lässt er an dieser Stelle die Periode der III. Internationale außer Acht.

9Die Periode der sogenannten Stolipynischen Reaktion (benannt nach dem russischen Premierminister Stolipyn) folgte auf die Revolution von 1905–06 und verschärfte die Verfolgung des zaristischen Staates gegen die revolutionäre Bewegung massiv. Zuvor durchgesetzte bürgerliche Freiheiten wurden zurückgenommen. Der Roman Als die Nacht verging von Iwan Popow zeichnet ein anschauliches Bild dieser Zeit.

10Der Empiriokritizmus stellt eine Form des subjektiven Idealismus dar und behauptet, dass die Menschheit grundsätzlich keine Möglichkeit zu Erkenntnissen über Teile der materiellen Wirklichkeit hat, die die Menschen nicht durch ihre Sinneseindrücke erfahren können. Konsequente Vertreter dieser Strömung vertraten auch offen, dass es unmöglich sei, die Existenz einer materiellen Wirklichkeit unabhängig vom menschlichen Bewusstsein zu beweisen.

11 Grigori Sinowjew (23.9.1883 – 25.8.1936) war ein Bolschewik und schon vor der Oktoberrevolution ein enger Mitstreiter Lenins. In der Sowjetunion wurde er später zum Mitglied des Politbüros beim Zentralkomitee der KPdSU und zu einer Führungsfigur in der Kommunistischen Internationale. Mitte der 20er-Jahre vertieften sich die Widersprüche zwischen ihm und der Mehrheit der Parteiführung in der Frage darüber, wie man den sozialistischen Aufbau fortführen sollte. In der entsprechenden breit organisierten Debatte in der Partei unterlagen Trotzki und er. 1936 wurde er im Rahmen der sogenannten „Moskauer Prozesse“ zum Tode verurteilt und erschossen.

12Diese Arbeiten Lenins und Sinowjews sind im Band Gegen den Strom gesammelt.

13Das Kapital Band I in Marx/Engels Werke 23, S. 27.

14Gemeint sind vor allem Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie und der Anti-Dühring.

15„Hegels Logik darf man in ihrer gegebenen Form nicht anwenden; man darf sie nicht als Gegebenes nehmen. Man muß ihr die logischen (gnoseologischen) Nuancen entnehmen und sie von der [Ideenmystik] reinigen: das ist noch eine große Arbeit.“ Lenin, Werke, Band 38, S. 253.

16Marx entwickelt seine ausdrückliche Kritik an Hegels Dialektik vor allem in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, den Pariser Manuskripten, und in der Deutschen Ideologie.

17Ebenda, S. 208. Vgl. auch S. 181, 184.

18Ebenda, S. 122.

19Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus in: Lenin Werke, Band 22, S. 191f.

20Die Große Initiative in: Lenin Werke, Band 29, S. 417

21Ebenda, S. 415

22Das Problem des Personenkults innerhalb der Arbeiterbewegung ist dabei selbst an diesem Punkt bereits ein Erbproblem der Bewegung. Die utopischen Sozialsten bildeten sie bereits heraus, und auch frühe modernere Arbeiter:innenführer wie Lassalle und auch Marx und Engels selbst litten (mehr oder weniger, denn Lassalle befürwortete den Kult durchaus) darunter.

23Die Aufgaben der Jugendverbände in: Lenin Werke, Band 31, S. 277.