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„Nach heute wird nichts mehr so sein, wie es vorher war” – am Abend des 7. Oktobers 2023 waren diese oder ähnliche Worte nicht nur in Palästina, sondern auch auf der Berliner Sonnenallee und an anderen Orten in Deutschland zu hören. Vielen galt der 7. Oktober als Auftakt einer neuen Epoche im Kampf des palästinensischen Volkes gegen die zionistische Besatzung. Israel, so die Hoffnung, sei nun gezwungen, den starren Zustand der Besatzung und Blockade aufzuheben.
Zur Situation in Palästina lässt sich in aller Kürze feststellen: Die Hamas selbst, unter deren Führung der Angriff des palästinensischen Widerstandes stand, spekulierte ähnlich wie zur gleichen Zeit die Putschisten im Niger oder die aserbaidschanischen Angreifer:innen auf Armenien darauf, dass in Folge des Krieges um die Ukraine die Kräfte der großen imperialistischen Mächte, allen voran die USA, anderweitig gebunden seien. Der Zeitpunkt für eine Verschiebung der Machtverhältnisse schien günstig. Die Entwicklung des vergangenen Jahres haben jedoch gezeigt, dass diese Hoffnung nur zu einem geringen Teil verwirklicht wurde. Die israelische Armee gipfelte in Reaktion auf den Angriff ihre jahrzehntelange Vernichtungspolitik in einem Genozid gegen die palästinensische Bevölkerung in Gaza.
Und in Deutschland? Hier erlebten wir seit dem 7. Oktober 2023 eine neue Welle der Palästinasolidarität. In ihren Kampfformen und der Vehemenz ist diese Solidaritätsbewegung zum Teil weit über das hinausgegangen, was wir bisher von dieser, aber auch anderen Bewegungen in Deutschland kannten. Besonders stachen dabei die Proteste im Berliner Bezirk Neukölln hervor. Mit brennenden Barrikaden, großen Demonstrationen, Unibesetzungen und Protest-Camps hat uns die palästinasolidarische Bewegung im vergangenen Jahr im Ansatz gezeigt, welches Potential darin steckt, wenn wir uns den Herrschenden in größerer Zahl widersetzen. Dabei bestehen die Proteste vor allem aus Migrant:innen und Studierenden, während andere Teile der Arbeiter:innenklasse ihnen fernblieben. Gleichzeitig ähnelt die palästinasolidarische Bewegung auch dem Zustand unserer Klasse selbst : es fehlt vielerorts an politischer Klarheit, zahlreiche rückschrittliche Einflüsse verhindern eine tatsächlich revolutionäre Perspektive, die Bewegung bleibt gespalten und nicht vereinheitlicht.
Heute steht die palästinasolidarische Bewegung, nach mehr als einem ganzen Jahr beinahe durchgängigem Kampf, vor einer wesentlichen Frage: Wie geht es weiter? Um diese Frage zu beantworten, wollen wir uns die aktuelle Entwicklung in der palästinasolidarischen Bewegung anschauen, wir wollen aufzeigen, wie in ihr bereits klassenkämpferische Elemente entstanden sind und eine Schlussfolgerung aus dieser Entwicklung ziehen.
„Palästina wird auch in Deutschland befreit”
Im Jahr 2021 tauchte in der palästinasolidarischen Bewegung eine wichtige Losung auf, die vor allem von der Gruppe Palästina spricht, aber in ähnlichen Formen auch von anderen propalästinensischen Aktivist:innen verbreitet wurde: „Palästina wird auch in Deutschland befreit”.
Nach einigen Jahren der relativen politischen Passivität traten ab 2020 mit Gruppen wie Palästina spricht oder der inzwischen verbotenen Organisation Samidoun wieder verstärkt junge propalästinensische Kräfte auf den Plan, die es schafften, in ganz Deutschland Menschen um den Fixpunkt Palästina zu mobilisieren und die sich dabei klar als Teil der linken politischen Widerstandsbewegung verorteten. Vor allem Palästina spricht entwickelte sich in diesem Zusammenhang parallel zum Erstarken der Migrantifa-Bewegung nach dem faschistischen Anschlag von Hanau, bezog sich gleichzeitig aber auch auf antikoloniale Kämpfe weltweit, nicht zuletzt in Palästina selbst.
Die Losung „Palästina wird auch in Deutschland befreit” drückte ein neues Selbstverständnis aus: Auch in Deutschland, wo vor allem im Zuge der Zweiten Intifada eine fast vollständige Gleichsetzung von palästinensischem Widerstand und „Terrorismus” stattgefunden hatte und die israelische Besatzungspolitik zur Staatsräson erklärt worden war, findet der Kampf für die Freiheit Palästinas statt. Auch in Deutschland, wo propalästinensische Aktivist:innen kriminalisiert und das Zeigen von palästinensischen Symbolen sanktioniert wird, führen palästinensische und palästinasolidarische Menschen, wie in Palästina selbst, den Kampf trotzdem weiter.
Während sich Vereine und Gruppierungen aus der palästinensischen Gemeinschaft der älteren Generationen über Jahrzehnte mit entpolitisierter Folklore zufrieden gegeben hatten, fanden nun wieder kämpferische Großdemonstrationen statt: Auf der revolutionären 1. Mai-Demo in Berlin Neukölln 2021 waren Palästinagruppen prominent vertreten und gerieten verstärkt in das Visier der polizeilichen Repression. Am Nakbatag 2021 strömten bis zu 15.000 Berliner:innen zu mehreren Demonstrationen auf die Straße. Eine damals von Samidoun angeführte Demonstration wurde dabei mit brutaler Gewalt von der Polizei zerschlagen.
Die Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf beschränkte sich wegen diesem und anderen Repressionen längst nicht mehr nur auf die Unterstützung des Kampfes in Palästina aus der Ferne. In Deutschland selbst führten Palästina spricht, Palästina Antikolonial und andere Gruppen den Kampf um Anerkennung, betonten die Legitimation des palästinensischen Kampfes in Palästina und die Legitimation des Kampfes der propalästinenischen Aktivist:innen in Deutschland gleichzeitig, engagierten sich für Meinungs- und Versammlungsfreiheit und leisteten Antirepressionsarbeit.
Zwischen den Gruppen herrschte dabei, über den reinen Abwehrkampf gegen den deutschen Staat hinaus, bei weitem keine ideologische Einigkeit. Palästina spricht zum Beispiel konzentrierte immer wieder seine Anstrengungen darauf, propalästinensische Kräfte in einem antirassistischen Kampf gegen den „anti-palästinensischen Rassismus” zu versammeln, und Forderungen gegenüber dem deutschen Staat nach Anerkennung und Repräsentation geltend zu machen. Samidoun hingegen orientierte deutlich mehr auf die Versammlung arabischer migrantischer Bevölkerungsteile hinter der palästinensischen Sache. Sie benannten auch die grundlegende Verbindung des deutschen Imperialismus mit der Unterdrückung des palästinensischen Volkes deutlich konsequenter als andere Gruppen.
Trotz der Unterschiede zeichnete sich bereits 2021 ab, dass in der politischen Arbeit rund um das Thema Palästina insgesamt ein neuer Wind wehte: Angespornt von den aktivsten palästinensischen Gruppen, aber auch den kommunistischen Kräften, die schon immer den anti-imperialistischen Kampf des palästinensischen Volkes unterstützt hatten, begannen immer mehr Gruppen, offen gegen die Mittäterschaft des deutschen Imperialismus in der Unterdrückung der Palästinenser:innen zu protestieren. Und immer wieder zeigte die bürgerliche Demokratie ihr repressives Gesicht, griff palästinensische Demonstrant:innen an, verbot propalästinensische Parolen und ganze Demonstrationen, kriminalisierte Aktivist:innen. Wie ernst der bürgerliche Staat die propalästinensische Bewegung nimmt, lässt sich unter anderem daran ablesen, dass nach den Großdemonstrationen zum Nakbatag 2021 in den darauffolgenden Jahren 2022 und 2023 jegliche fortschrittlichen propalästinensischen Demonstration zum Nakbatag in Berlin verboten worden waren.
Doch auch die pro-palästinensischen Kräfte zeigten letztlich, wie ernst sie es meinen: Sie ließen sich durch die Repressionen nicht einschüchtern, sondern setzten ihren Aktivitäten fort. So kämpften sowohl 2022 als auch 2023 Bündnisse rund um anti-imperialistische und revolutionäre Kräfte die Straßen frei, indem sie trotz der Verbote Demonstrationen in Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf auf der Berliner Sonnenallee organisierten und anführten.
Palästinasolidarität seit dem 7. Oktober
Die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 in Palästina sorgten in Deutschland dafür, dass die seit 2020 zu neuem Leben erwachte palästinasolidarische Bewegung einen ungeheuren Zuwachs erhielt. Nachdem Samidoun am 7. Oktober ein Foto in den Sozialen Medien verbreitete, auf dem zu sehen war, wie Baklava auf der Sonnenallee in Berlin verteilt wurde, brachten der deutsche Staat und deutsche Medienhäuser schnellstens ihre Geschütze gegen jede propalästinensische Äußerung und gegen jede Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand in Stellung: Den Angriff unter Führung der Hamas nahmen die Behörden zum Anlass, in mehreren Städten zum Teil über mehrere Wochen jegliche propalästinensische Demonstration zu verbieten und mit massiver Polizeigewalt propalästinensische Versammlungen anzugreifen. Gegen dieses neue Ausmaß an Repression regte sich auch ein neues Ausmaß an Widerstand. Nicht nur in Berlin, auch wenn dort in der Sonnenallee und auf den Plätzen in der Innenstadt sicherlich die größten Menschenmassen zusammenkamen, sondern auch in Hamburg, Frankfurt, Köln und anderen deutschen Städten wurden sich die Straßen genommen. Angeführt wurden die Proteste zum Teil von schon länger bestehenden Gruppen, doch auch zahlreiche neue, vor allem auf die Organisation von pro-palästinensischen Demonstrationen ausgerichtete Zusammenschlüsse entstanden.
In dieser Welle der Palästinasolidarität seit dem Herbst 2023 sehen wir, wie sich die Tendenzen, die wir seit mehreren Jahren beobachten, potenzierten und rasant weiterentwickelten. Weiterhin und bis heute stehen im Mittelpunkt der propalästinensischen Proteste der Kampf um die Anerkennung des Kampfes an sich. Aktivist:innen fordern weiterhin, die Legitimität des palästinensischen Befreiungskampfes genauso wie die Legitimität der Palästinasolidarität hier in Deutschland anzuerkennen.
Und auch die Reaktion des Staates auf die Proteste sind eine Fortsetzung dessen, was wir bereits seit Jahren beobachten können: Parolen werden verboten, besonders die Parole „From the river to the sea, Palestine will be free” wurde kriminalisiert und zum Teil als Volksverhetzung gebrandmarkt. Und nachdem 2021, 2022 und 2023 die Demonstrationen der Gruppe Samidoun immer wieder verboten und angegriffen worden waren, erfolgte im November 2023, kurz nach dem Höhepunkt der Proteste auf der Berliner Sonnenallee, das Verbot der Organisation an sich. Auch andere Organisationen wie Palästina Solidarität Duisburg und Zora standen im Fadenkreuz der Repression.
Gleichzeitig wuchsen inmitten der Repression andere Organisationen zu neuen führenden Kräften der Palästinasolidarität heran – zum Teil gerade weil sie sich an entscheidenden Stellen der Repression fügten, auf bestimmte Ausdrücke, kämpferische Forderungen und Losungen verzichteten. So konnten zum Beispiel in Berlin und Hamburg schon bald wieder riesige Demonstrationen durchgeführt werden – tatsächlich jedoch fanden diese unter den Bedingungen der Polizei statt; der vorgetragene kämpferische Ausdruck wurde sogar teilweise durch die anführenden Gruppen selbst beschränkt und kontrolliert. Dem deutschen Staat gelang es so, große Teile der palästinasolidarischen Bewegung wieder einzuhegen und unter Kontrolle zu bringen. Die Großdemos wurden so zu Ventilen, um die Wut auf den Straßen zu kanalisieren.
Zugleich wurden andere Wege erkämpft, um die Proteste fortzuführen. Mit den Besetzungen an den Universitäten und den in zahlreichen Städten errichteten Protestcamps rollte im Frühjahr ein weiteres Mal eine Welle der Palästinasolidarität durch Deutschland. Auch hier zeigte sich jedoch bald, wie schwer es großen Teilen der Bewegung noch fällt, dem Staat und seinen Apparaten tatsächliche kämpferisch Erfolge abzuringen anstatt sich willkürlichen Regelungen und Bestimmungen zu unterwerfen. Während einige Besetzungen zu Orten des Kampfes wurden und von der Polizei zerschlagen wurden, fügten sich andere Protestcamps alsbald Bestimmungen von Universitätsleitungen und Polizei immer mehr, einzig allein um ihr Bestehen zu sichern.
Besonders extrem ist diese Haltung unter den rückschrittlichsten Kräften der Bewegung ausgeprägt, unter denen zum Teil sogar offen zur Kooperation mit deutschen Behörden aufgerufen und sich von den fortschrittlicheren Kräften distanziert wird. Derartige Positionen werden mittlerweile aber in der Bewegung aktiv bekämpft.
Zur Anwendung der Logik des nationalen Befreiungskampfes in Deutschland
Auch in Bezug auf eine fehlende politische Klarheit zeigt sich in der Palästinasolidarität seit dem 7. Oktober eine Fortführung bereits bestehender Probleme.
Wagen wir ein Gedankenexperiment: Was wäre eigentlich passiert, wenn jemand in Berlin im Oktober 2023 die Sonnenallee erkämpft hätte? Wenn die brennenden Barrikaden nicht nach einigen Stunden wieder von der Polizei und Feuerwehr gelöscht worden wären, wenn die Polizei nicht nach einigen Stunden Kontrollverlust jede Nacht vor Sonnenaufgang wieder Ruhe hergestellt hätte?
Wenn wir uns die ideologische Zerfaserung und die fehlende gemeinsame Ausrichtung im Kampf gegen den deutschen Imperialismus vor Augen halten, so muss die Antwort unweigerlich lauten: Wahrscheinlich hätte man mit der erkämpften Straße nichts anzufangen gewusst.
Der Grund dafür liegt in der Beschränktheit der Palästinasolidarität selbst: Die reine Anstrengung im Namen des palästinensischen Volkes kommt hier in Deutschland in dem Moment an ihre Grenzen, wenn wir den reinen Abwehrkampf gegen die staatliche Repression gewinnen. Im Kleinen haben wir das bereits in Protestcamps gesehen: Sobald die Räume erkämpft (und zum Teil durch Unterwerfung unter den Staat erkauft) worden waren, begannen die politischen Auseinandersetzungen darüber, wie der gemeinsame Kampf weitergeführt werden solle – zu oft ohne ein produktives Ergebnis.
Eine Sache wird dabei mehr und mehr Teilen der Bewegung offenbar: Die palästinasolidarische Bewegung in Deutschland stößt an ihre Grenzen, weil sie, obwohl sie vermehrt den deutschen Imperialismus als Unterdrücker des palästinensischen Volkes in den Blick genommen hat, die Logik des nationalen Befreiungskampfes in Palästina hier in Deutschland als Maßstab ansetzt. Was heißt das genau?
In Palästina erhebt sich das palästinensische Volk seit 100 Jahren immer wieder gegen die Kolonialisierung. Erst gegen die britische Kolonialmacht und die zionistischen Siedler:innen, seit 1948 gegen den zionistischen Staat Israel, welcher die Palästinenser:innen enteignet, vertreibt und durch Landnahme und ethnische Säuberungen das Ziel verfolgt, den Raum für die eigene Bevölkerung dauerhaft zu vergrößern.
Im antikolonialen nationalen Befreiungskampf der Palästinenser:innen wehren sich palästinensische Arbeiter:innen und Landarbeiter:innen Seite an Seite mit Grundbesitzern und den Teilen der palästinensischen Bourgeoisie, die nicht mit der zionistischen Besatzung kooperieren, gegen die anhaltenden Angriffe des israelischen Staates und der eigenen Komprador-Bourgeoisie und führen einen erbitterten Kampf um ihre schiere Existenz. Der Angriff vom 7. Oktober unter Führung der Hamas als Kraft, die objektiv die Interessen von Teilen der palästinensischen Bourgeoisie vertritt und die unter den unterdrückten palästinensischen Massen durch ihre radikale und religiös eingefärbte Politik eine große Anhängerschaft generieren konnte, hat uns gleichzeitig erneut verdeutlicht, dass der legitime, zu unterstützende Kampf für die palästinensische Selbstbestimmung derzeit vor allem von rückschrittlichen Kräften angeführt wird.
Wir haben bereits beschrieben, dass in gewisser Art und Weise die Palästinasolidarität hier in Deutschland ein Spiegel des Befreiungskampfes in Palästina ist und bestimmte Logiken übernimmt: Auch in Deutschland steht der Abwehrkampf – hier gegen die deutsche Repression – im Mittelpunkt. Hier wird die Verteidigung palästinensischer und palästinasolidarischer Identität an sich – in der Spiegelung des tatsächlichen Angriffs auf die palästinensische Existenz in der andauernden kolonialen Unterdrückung dort – zum Dreh- und Angelpunkt jeglicher Politik innerhalb der Bewegung.
So ist es auch zu erklären, dass zahlreiche Gruppen und Aktivist:innen der palästinasolidarischen Bewegung im vergangenen Jahr so bereitwillig zu Verteidiger:innen der Hamas und anderen islamisch-fundamentalistischen Kräften geworden sind. Weil das palästinensische Volk momentan seinen Widerstand unter Führung der reaktionären Hamas führt, stellten in Deutschland viele die Gleichung auf: Wer gegen die Hamas ist, ist gegen den palästinensischen Widerstand.
Unter dem Feuer der Repression und Verleumdung durch deutsche Behörden und Medien, die ihrerseits auf Grundlage der gleichen Grundrechnung jeglichen palästinensischen Widerstand mit der Hamas gleichsetzen und delegitimieren, wurde eine politische Auseinandersetzung um genau diese Gleichsetzung nahezu verunmöglicht. Vielmehr schwenkten zahlreiche Organisationen in diese folgsame Solidarität ein und begannen, ähnlich wie palästinensische Kräfte vor Ort, die Einheit von islamisch-fundamentalistischen und revolutionären Kräften im Kampf gegen die Unterdrückung nicht nur als mögliche zeitweise Notwendigkeit, sondern als grundsätzliches strategisches Bündnis im Kampf gegen den Imperialismus zu verstehen. Diese falsche Gleichsetzung öffnete also, dort wo sie unternommen wurde, islamisch-fundamentalistischen und rückwärtsgewandten Kräften Tür und Tor, um in der palästinasolidarischen Bewegung in Deutschland ihre Positionen zu verbreiten.
In der Praxis führte das letztendlich zum Teil sogar dazu, dass eine klare ideologische Abkehr von islamisch-fundamentalistischen Gruppierungen wie der Hamas oder der Hizb-at-Tahrir von einigen Teilen der palästinasolidarischen Bewegungen nicht nur nicht erreicht, sondern offen als unvereinbar mit dem palästinensischen Befreiungskampf abgelehnt wurde. Weite Teile der palästinasolidarischen Bewegung begreifen sich in diesem Zusammenhang eher als breite Volksfront gegen die Repression des deutschen Staates in der Palästinafrage, statt als revolutionäre Kraft im Kampf gegen den deutschen Imperialismus und das imperialistische Weltsystem. Damit einher ging immer wieder auch eine gewisse Verweigerungshaltung in Teilen der Bewegung, sich mit anderen Fragen, wie dem deutschen Imperialismus und der patriarchalen Ausbeutung und Unterdrückung, zu beschäftigen und zu diesen Stellung zu beziehen. Die Palästina-Frage wurde von einigen Akteur:innen gar zur Hauptfrage schlechthin stilisiert: Andere Fragen wären in der Bewegung unwichtig und würden die „Einheit der Bewegung“ gefährden.
Auch unter den in anderen Fragen fortschrittlichen Gruppen mit „dekolonialem Ansatz“ finden wir immer wieder genau dieses Denkmuster. Unter Berufung auf die Anerkennung der kolonialen Unterdrückung der Palästinenser:innen postulieren diese Gruppen sodann, dass die Palästinenser:innen das Recht haben, ihre eigene Führung zu bestimmen – und aus Sicht von im „Westen” lebenden Aktivist:innen die Entscheidung der Palästinenser:innen, sich der Führung der Hamas unterzuordnen, nicht in Frage zu stellen sei. Die Rückwärtsgewandtheit der Hamas wird so zwar in eine scheinbar fortschrittliche Perspektive auf die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes verschleiert, doch letztlich üben auch die „Dekolonialist:innen“ nur eine folgsame Solidarität aus, die keine eigene Antwort auf die Befreiung der Unterdrückten und Ausgebeuteten liefern kann.
Letztlich sehen wir heute, dass die Losung „Palästina wird auch in Deutschland befreit”, die noch vor einigen Jahren neuen Schwung in die Bewegung gebracht hatte, sich mittlerweile verwirkt hat. Die Gruppen und Organisationen, die sich mit dem Ziel gegründet haben, den Kampf des palästinensischen Volkes um Anerkennung und Existenz auch auf die Straßen Deutschlands zu tragen, ist es zwar durchaus gelungen, eine Bewegung zu formen, die dieses Ziel erreicht. Doch gleichzeitig beschränkt sich die Bewegung durch das Festhalten an der reinen Orientierung am palästinensischen Befreiungskampf mittlerweile selbst.
Die nächsten Schritte gehen
Ist denn aber wegen dieser Verfehlungen, wegen dieser Abweichungen und Schwankungen alles schlecht in der palästinasolidarischen Bewegung? Nein. Die palästinasolidarische Bewegung hat einen wesentlichen Anteil daran, dass die Rolle des deutschen Staates als Unterdrücker mehr Menschen präsent geworden ist und präsent wird.
Und mehr noch: In der Entwicklung, die die Bewegung genommen hat und durch die sie überhaupt in die jetzige Selbstbeschränkung gelangt ist, sind bereits diejenigen Elemente aufgekommen, die eben diese Beschränkung aufheben können.
Schauen wir zum Beispiel an die Universitäten, wo die Protestierenden zum Teil sehr konkrete Forderungen an deutsche Behörden und die eigenen Rektor:innen aufgestellt haben. Neben einem Ende des Genozids in Palästina forderten Studierendenzusammenschlüsse zum Beispiel, dass die Universitäten ihre Beziehungen zu Unternehmen, die den israelischen Krieg gegen das palästinensische Volk unterstützen, offenlegen und alle diese Verbindungen sofort aufkündigen. Im gleichen Zusammenhang wurde auch vermehrt die Forderung nach der Erhaltung der „Zivilklausel”, also der freiwilligen Selbstverpflichtung einiger Universitäten, keine Forschung im Auftrag des Militärs durchzuführen, laut. Es ist dort also bereits gelungen, über den bloßen Blick nach Palästina, über die folgsame Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf hinauszukommen.
Vielerorts wurde außerdem die Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf verbunden mit der konkreten Forderung, deutsche Waffenlieferungen an Israel zu stoppen. Die Verstrickung des deutschen Imperialismus in die Unterdrückung der Palästinenser:innen und die Skrupellosigkeit derjenigen deutschen Rüstungsunternehmen, die nicht nur die israelische Armee, sondern allen voran auch die Bundeswehr kriegsfähig machen, wurde zum Beispiel auch bei den Aktionstagen von „Rheinmetall entwaffnen” in Kiel durch palästinasolidarische Aktivist:innen offengelegt.
In diesen Beispielen sehen wir gleichzeitig das Alte, das sich Verwirkende und das neu Entstehende. Durch die Palästinasolidarität selbst, durch die Beschäftigung mit den Verhältnissen, unter denen das palästinensische Volk ächzt, entsteht das Bewusstsein, dass auch der deutsche Imperialismus, als Teil des imperialistischen Weltsystems, Teil der Palästina-Frage ist. Doch gleichzeitig wird auch offenbar, dass die Befreiung Palästinas von Deutschland aus nicht durch eine lineare Entwicklung, eine immer weiter voranzutreibende Eskalation gegen den deutschen Staat, erreichbar wäre – auch 100 Aufstände auf der Sonnenallee werden den deutschen Imperialismus nicht zu Fall bringen, zumindest nicht alleine. Wer den deutschen Imperialismus als Feind ausmacht, muss sich stattdessen der Herausforderung stellen, ihn in seiner Gänze, und nicht nur eine einzelne seiner Positionen oder eine bestimmte Politik, zu bekämpfen.
Nehmen wir die Losungen der Bewegung also ernst: Was müsste passieren, damit Palästina auch von Deutschland aus befreit wird? Welche Bedingungen für die Erfüllung dieser Losung hat der palästinasolidarische Kampf bis hierhin offenbart?
Wer sich mit diesen Fragen ernsthaft auseinandersetzt, wer nicht nur die Forderung „Waffenlieferungen stoppen” aufstellen, sondern sie auch verwirklichen will, erkennt schnell, dass der deutsche Staat sich niemals durch die bloße moralische Forderung an sich dazu bewegen lassen wird, Waffenlieferungen an Israel und an andere unterdrückerische Staaten dauerhaft auszusetzen.
Stattdessen bleibt die Drehachse weiterhin der Klassenkampf. Nur wenn sich der entscheidende Teil aller Ausgebeuteten und Unterdrückten in Deutschland in einer kämpferischen Bewegung zusammenschließt, wird es gelingen, den deutschen Staat umzuwerfen und die Kapitalist:innenklasse, die sich im Kapitalismus abgesichert durch den Staat immer weiter bereichert, zu entmachten und den Sozialismus aufzubauen. Erst dann wird es uns auch möglich sein, die Unterstützung Israels durch Deutschland zu beenden – denn jegliche Produktion liegt dann in unserer Hand.
Geht denn im Klassenkampf, so wie einige Aktivist:innen der palästinasolidarischen Bewegung derzeit befürchten, die Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf auf und verschwindet? Ja und nein. An die Stelle des Fixpunkts Palästina und an die Stelle der folgsamen Solidarität muss ein wachsendes Klassenbewusstsein treten – jede Form der Ausbeutung und jede Form der Unterdrückung unserer Klasse wird dann zur revolutionären Sache werden. Doch das heißt nicht, dass die entstehenden klassenkämpferischen Organisationen und die heranreifenden Revolutionär:innen in Deutschland nicht mehr an der Seite des palästinensischen Befreiungskampfes sein werden. Vielmehr werden wir die Solidarität mit Palästina, wenn sie in ihrer beschränkten Form vergeht, auf einem neuen Niveau wiederherstellen und das palästinensische Volk, und alle anderen im Imperialismus Unterdrückten, durch unseren gezielten Kampf gegen den deutschen Imperialismus unterstützen. Heute geht es darum, das Bewusstsein über den allseitigen Kampf gegen den deutschen Imperialismus und den Klassenkampf zu steigern und daraus Taten folgen zu lassen.