Um die Wende zum 20. Jahrhundert hinkte der deutsche Imperialismus seiner Konkurrenz noch meilenweit hinterher. Dann folgte sein Aufstieg im Rekordtempo. Weder die zeitweise fortgeschrittenste Arbeiter:innenbewegung der Welt noch zwei verlorene Weltkriege konnten ihn seitdem langfristig zu Boden bringen. Heute steht die herrschende Klasse dieses Landes vor neuen Herausforderungen. Den Kampf um die größten Profite und die Macht über die ganze Welt führen derzeit die USA und China. Die europäischen Imperialisten – und mit ihnen auch Deutschland – sehen vor sich die Gefahr, vollständig ins Hintertreffen zu geraten. Die Widersprüche, aus denen das imperialistische Weltsystem besteht, entwickeln sich immer schneller, und der nächste Weltkrieg deutet sich schon am Horizont an.
Die Arbeiter:innenklasse in Deutschland steht diesen Entwicklungen heute noch in großen Teilen hilflos gegenüber. Aber wir werden nicht wie die Schafe zur Schlachtbank gehen. Statt „kriegstüchtig“ für die Imperialisten zu werden, müssen wir verstehen, was um uns herum passiert und widerstandsfähig werden. Dieser Artikel soll einen Beitrag dazu leisten, zu analysieren, unter welchen Bedingungen wir heute und morgen leben und kämpfen werden. Von einem kurzen historischen Abriss über die Geschichte des deutschen Imperialismus gehen wir zu jüngeren Entwicklungen über und richten unseren Blick auf die möglichen Entwicklungen der nächsten Jahre. Zum Schluss widmen wir uns konkreter der Frage, wie unsere Antwort als Kommunist:innen und Arbeiter:innen aussehen muss.
Das imperialistische Weltsystem heute
Die Entwicklung Deutschlands ist ein Bestandteil der Gesamtentwicklung des Imperialismus als Weltsystem. Insofern ist es für unsere Analyse von Bedeutung, wie wir den Imperialismus heute einschätzen und welche Rolle Deutschland darin spielt.
Wir können dabei auf die Untersuchungen von Lenin aus seinem Werk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ aufbauen. Die darin beschriebenen kapitalistischen Monopole, die die Produktion und das Kapital kontrollieren und die Märkte unter sich aufteilen, gibt es weiterhin. Dabei sind heute die Produktionsprozesse internationalisiert und es herrschen globale Lieferketten vor. Die größten Monopole sind zu Weltmonopolen geworden, die nicht nur nationale sondern internationale Produktionsprozesse kontrollieren. Sie machen die Unternehmen auf unteren Stufen der Produktion von sich abhängig, die selbst in einem bestimmten Bereich Monopole sein können. Ihr Konkurrenzkampf untereinander findet heute ebenfalls auf Weltebene statt.
Dabei nutzen die Weltmonopole die Nationalstaaten als ihre Machtbasis für den internationalen Konkurrenzkampf. Sie bauen auf die Fähigkeit des Staatsapparates, die kapitalistische Ordnung herzustellen und zu beschützen, d. h. die Arbeiter:innenklasse niederzuhalten und den gesellschaftlichen Reichtum von unten nach oben umzuverteilen. Gegenüber anderen Ländern soll der Staat das eigene Territorium beschützen und den eigenen Einflussbereich auf verschiedenen Wegen (ökonomisch, militärisch, ideologisch-politisch) erweitern. Je nachdem, wie viele Weltmonopole, in welcher Machtposition hinter ihm stehen, so mächtig und durchsetzungsstark ist ein Staat heute. Auf dieser ökonomischen Basis bauen weitere Faktoren auf, wie die erreichte militärische Stärke und die Möglichkeit einer umfassenden Kriegswirtschaft. Ebenfalls damit in Wechselwirkung steht die Funktionsfähigkeit des politischen Systems im Sinne der Monopole und die gesellschaftliche Stabilität innerhalb eines Staates. Steht dem Staat viel Geld zur Verfügung, kann er dieses nutzen z. B. um mithilfe von Reformen Protestbewegungen einzufangen. Ist mit weniger politischen Krisen und Protesten zu rechnen, kann ein Staat seine Macht mehr gegen seine Konkurrenz zur Geltung bringen. Auch die geografische Lage, natürliche Ressourcen und die Größe seines Territoriums und seiner Bevölkerung sind Faktoren, die seine Machtstellung beeinflussen und unterschiedliche Herausforderungen oder Vorteile mit sich bringen können.
Die USA und nach ihr China sind heute die mächtigsten imperialistischen Länder der Welt. Auch wenn Deutschland von dieser Größenordnung einiges entfernt ist, nimmt es den Status eines der darauffolgenden mächtigsten imperialistischen Länder der Welt ein. Es hat eine breit aufgestellte ökonomische Basis, das drittgrößte nominelle Bruttoinlandsprodukt der Welt1 und ist in der Lage, sich im internationalen Konkurrenzkampf mit einer eigenen Strategie am Kampf um die Welthegemonie zu beteiligen. Das heißt, es ist aufgrund seiner Machtstellung gegenüber einer großen Anzahl von Staaten weltweit in der Lage, seine Interessen durchzusetzen und ist dabei nicht nur z. B. auf eine bestimmte Region begrenzt. Eine besondere Rolle für den deutschen Imperialismus spielt die Europäische Union (EU). Als imperialistisches Bündnis nutzt Deutschland die EU zur Durchsetzung seiner Interessen in Europa und darüber hinaus. Ein Beispiel für letzteres ist das Mercosur-Abkommen, ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, das voraussichtlich 2026 in Kraft treten wird und vor allem die Bedingungen für deutsche Monopole verbessert.
Der Weg des deutschen Imperialismus
Um die aktuell laufenden und zukünftigen Entwicklungen des deutschen Imperialismus verstehen zu können, ist es notwendig, diese in den historischen Kontext einzuordnen. Dazu wollen wir an dieser Stelle eine kurze Skizze der geschichtlichen Entwicklung zeichnen und auf einige Besonderheiten der deutschen Verhältnisse eingehen.
Der ungarische Kommunist Eugen Varga (1879-1964) stellt diese in seinem Werk „Die historischen Wurzeln der Besonderheiten des deutschen Imperialismus“ umfassend dar. So blieb der deutsche Imperialismus Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst hinter seinen Konkurrenten zurück. Im Kampf um die Kontrolle eines möglichst großen Anteils am Weltmarkt hatten vor allem England und Frankreich schon einen deutlichen Vorsprung. Um aufzuholen, wandte das deutsche Kapital besonders zwei Methoden an: Auf der einen Seite hohe Schutzzölle auf Industriewaren, um den inneren Markt zu sichern, und auf der anderen Seite das Betreiben von Preis-Dumping, d. h. Waren unter ihrem Produktionspreis ins Ausland zu verkaufen. Die dadurch entstandenen Verluste wurden wiederum auf die Arbeiter:innen im eigenen Land abgewälzt. Um die Bedingungen für das deutsche Kapital möglichst günstig zu gestalten, bildeten sich besonders schnell und viele Zusammenschlüsse von Kapitalist:innen, die ihre Interessen gemeinsam auch gegenüber dem Staat durchsetzten: „Hohe Zölle allein genügten den deutschen Kapitalisten nicht, sie forderten zumindest eine Duldung, wenn nicht eine positive Unterstützung der Monopolbildung und der hohen Inlandspreise durch den Staat. Die Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik, seine Einmischung zugunsten des Monopolkapitals war in Deutschland größer als in jedem anderen kapitalistischen Lande. Die alte Praxis des preußischen bürokratischen Staates, der sich in alle Angelegenheiten der Staatsbürger einmischte, wurde vom Monopolkapital in seine Dienste gestellt. So entwickelten sich in Deutschland sehr früh, noch vor dem ersten Weltkrieg, gewisse Tendenzen zum Staatskapitalismus.“2 Daraus folgte ein besonders schneller Aufstieg der deutschen Industrie, die Anfang des 20. Jahrhunderts die Führung im Bereich Metall, Chemie und Elektrotechnik in Europa übernommen hatte.
Das Hochhalten des Preises für Industriegüter im Inland stieß jedoch mit der weiteren technischen Entwicklung der Industrie an seine Grenzen, und im Kampf um Kolonien als weitere Absatzmärkte hatte Deutschland bis 1914 keine größeren Erfolge erzielen können. Die deutschen Kapitalist:innen drängten auf die gewaltsame Ausweitung des Marktes, während ihre imperialistische Konkurrenz ihre Machtstellung behalten und weiter ausbauen wollte. Um diesen Widerspruch zu lösen, entfachten die Imperialisten den Ersten Weltkrieg, den ersten imperialistischen Krieg um die Neuaufteilung der Welt.
Mit diesem ersten Versuch, sich weite Teile Europas, Westasiens und Afrikas zu unterwerfen, scheiterte der deutsche Imperialismus jedoch. Die Kapitalist:innenklasse rettete sich nach ihrer Niederlage 1918 vor der Novemberrevolution durch ihr Bündnis mit den Sozialdemokrat:innen, die schon 1914 durch ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten offenen Verrat an der Arbeiter:innenklasse begangen hatten. Nachdem sie ihre Macht durch eine Kombination aus gewaltsamer Niederschlagung der Novemberrevolution bei einigen Zugeständnissen an die Arbeiter:innen gesichert hatten, machte sich ein Teil der Monopole direkt an die Vorbereitungen für den nächsten Krieg. Die Reichswehr wurde zunächst im Geheimen wieder aufgebaut, Rüstungsbetriebe und -produktion über die im Friedensvertrag festgelegte Anzahl ausgeweitet und in anderen Ländern mit deutschem Kapital neugegründet. Finanziert wurden diese Unternehmungen durch den Verkauf von Marknoten ins Ausland, durch die die Inflation3 nach oben getrieben wurde: „Der dadurch angeeignete Mehrwert wurde vor allem in ‚Sachwerten‘ angelegt und für den Neuaufbau des mit Krieg abgenutzten Produktionsapparates verwendet. Außerdem beraubte die Finanzoligarchie den Staat auch in der Form, daß sie riesige Kredite bei der Reichsbank aufnahm, diese in Sachwerten anlegte, der Reichsbank aber die Schuld in mittlerweile völlig entwerteten Noten zurückzahlte. Das Monopolkapital raubte das Land aus, während Arbeiter, Angestellte und Beamte hungerten.“4
Dazu kamen große Auslandskredite, sodass das deutsche Kapital auch nach seiner Niederlage schnell wieder konkurrenzfähig wurde. Bis Anfang der 1930er Jahre setzten wichtige Teile der Monopole zunächst noch auf eine diplomatische Außenpolitik. Durch Wirtschaftskrisen und Handelskriege geriet dieser Weg jedoch an seine Grenzen. Die NSDAP gewann rasend schnell an Einfluss und stellte ein geeignetes Mittel zum Ausbau für eine vielfach aggressivere Außen- sowie Innenpolitik dar. 1933 begann ihre offene Terrorherrschaft im Sinne der rückschrittlichsten Teile der Kapitalist:innen und feudalen Großgrundbesitzer:innen.
Der deutsche Faschismus ließ alle Deckmäntel der bürgerlichen Fortschrittlichkeit fallen und zeigte das wahre Gesicht des deutschen Imperialismus. Im Inneren wurden die bürgerlich-demokratischen Institutionen abgeschafft, die Arbeiter:innen verloren alle ihre Rechte in Betrieb und Gesellschaft, Unterdrückte gesellschaftliche Gruppen sowie fortschrittliche Kräfte wurden brutal verfolgt. Die Wirtschaft wurde auf die Kriegsproduktion umgestellt und andere Länder sollten zu Arbeitskraft-, Agrar- und Rohstoffquellen für die deutschen Monopole werden. Von Europa aus war das Ziel, die ganze Welt zu erobern. Der Eroberungskrieg wurde vor allem Richtung Osteuropa geführt, um eine imperialistische Macht mit vergleichbarer Stärke zu den USA zu schaffen, die nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Weltmacht aufgestiegen waren.
Kasten: Deutschlands Geostrategie
Die imperialistische Geostrategie eines Landes umfasst alle planmäßigen politischen, ökonomischen, militärischen usw. Maßnahmen, die auf das Erreichen der Welthegemonie im Interesse des eigenen Monopolkapitals abzielt. Für dieses Ziel spielt Eurasien, also Europa und Asien als ein zusammengefasster Kontinent, eine zentrale Rolle. Es ist die größte zusammenhängende Landmasse der Welt. Eine Macht, die Eurasien kontrolliert, hätte dadurch eine imperialistische Welthegemonie erreicht und große Vorteile gegen jede amerikanische, afrikanische oder ozeanische Konkurrenz.
Deutschland liegt am westlichen Ende Eurasiens, aber im Zentrum Europas. Für seine Nachbarländer ist es ein Gebiet, durch das sie hindurch müssen, um den Rest des Kontinents zu erreichen. In diesem Sinne ist Deutschlands Territorium dauerhaft von allen Seiten bedroht. Das führt dazu, dass für den deutschen Imperialismus die Sicherung seiner Basis in Mitteleuropa an erster Stelle steht. Danach kann er sich strategisch in Richtung Osten (über Polen und die Ukraine in Richtung Kaukasus) oder Südosten (über den Balkan in Richtung Türkei) ausdehnen.
Diese Strategie hat ihren Ausdruck im Agieren Deutschlands in zwei imperialistischen Weltkriegen gefunden, durch die Besetzung und teilweise Einverleibung z. B. von Polen, der Ukraine, des Balkan usw. Aber auch in Zeiten, in denen militärische Annexionen nicht auf der Tagesordnung stehen, gilt sie. So hat der deutsche Imperialismus zu jeder Zeit mindestens um einen europäischen Wirtschaftsraum mit scheinbarer Unabhängigkeit, jedoch faktischer Dominanz Deutschlands gekämpft.
Ein weiteres Problem, das sich aus der geografischen Lage Deutschlands ergibt, ist der Mangel an Bodenressourcen und die unter anderem damit verbundene Frage der Energieherstellung in Deutschland. Die größten Erdgasvorkommen liegen in Schiefergestein, das nur mithilfe von neueren (und seit 2017 in Deutschland verbotenen) Fracking-Methoden gefördert werden kann. Auch der Erdölbestand und die Vorkommen Seltener Erden sind zu gering für den eigenen Verbrauch und zum größten Teil nicht profitabel förderbar. Auch die bekannten und vermuteten Uranvorkommen sind fast vollständig abgebaut und die Förderung seit 1991 eingestellt. Braun- und Steinkohle gibt es im Gegensatz dazu in großen Mengen, worauf historisch dementsprechend auch ein Großteil der Energieerzeugung basierte. Steinkohle wurde über Jahrzehnte abgebaut, unterlag aber aufgrund ihres Vorkommens in 1.000 Metern Tiefe Ende des 19. Jahrhunderts der internationalen Konkurrenz und wird heute nur noch importiert.5 Mit der Entwicklung von Photovoltaik- und Windkraftanlagen hat sich die Situation etwas verändert, sie reichen aber bislang nicht aus6, um Deutschland im Bereich der Energie autark zu machen.
Vom deutschen Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland haben diese strategischen Fragen den deutschen Imperialismus dauerhaft begleitet.
Die Situation nach 1945
1945, nach Jahren des Krieges und der Zerstörung, konnte der deutsche Imperialismus erneut militärisch besiegt werden. Die umfangreiche Niederlage bedeutete für das deutsche Kapital, dass sein Wiederaufstieg vor allem von den Interessen der Besatzungsmächte abhing. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich die Frage der Konkurrenz unter den imperialistischen Ländern im Westen anders als zuvor. Die USA führte dieses Lager als damals neue Weltmacht an. Die Existenz des sozialistischen Lagers auf der anderen Seite und die Rolle von Atomwaffen waren neue Bedingungen.
So wurde der deutsche Staat selbst durch die Lager geteilt. In der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR kam es zu umfangreichen Enteignungen und Ansätzen einer sozialistischen Wirtschaftspolitik. Unter diesen Bedingungen war an eine Erholung des deutschen Kapitals nicht zu denken. In der BRD schafften die Kapitalist:innen es, sich unter Führung der USA in die westlichen Bündnisse zu integrieren. Dazu gehörte zuallererst die NATO, die 1949 gegründet wurde und der die BRD 1955 beitrat. Deutschland kam dabei zugute, dass die USA ein Interesse daran hatten, die BRD als antikommunistischen Außenposten aufzubauen, und sich dabei auch gegen Frankreich durchsetzen konnten, die einer so schnellen Erholung des deutschen Imperialismus entgegenstanden.
In einem widersprüchlichen Prozess begann danach die Formung imperialistischer Bündnisse in Europa. Dieser Bestand in einem dauerhaften Ringen um die Vorherrschaft vor allem zwischen Frankreich und Deutschland. 1992 war das Ergebnis die Gründung der Europäischen Union, als deren Führungsmacht sich Deutschland durchsetzen konnte.
Wirtschaftlich stieg die BRD nach 1945 ebenfalls wieder auf. Durch das Exportgeschäft war Deutschland ein Gewinner der beginnenden Globalisierung der Produktionsketten und Märkte. Gleichzeitig waren auch weiterhin die Industriebereiche, die in Deutschland besonders gut ausgebaut waren, wichtige Elemente der weltweiten Produktion. Auch hier nutzte die BRD die Hegemonie des US-Imperialismus aus. In seinem Windschatten konnte sie mit einem großen Teil der Welt gute Geschäfte machen. Seit den frühen 1950er Jahren exportiert die BRD mehr Waren als sie importiert. Westeuropa war dabei ein besonders wichtiger Markt. Den Handel mit Osteuropa wiederum erschwerte die USA durch zahlreiche Handelsrestriktionen zunächst stark. 1937 machte Osteuropa noch 16 Prozent der Exporte aus Deutschland aus, 1960 nur noch vier Prozent.7 Heute liegt der Wert wieder bei ca. 18 Prozent.8 Weltweit stieg die BRD dennoch 1960 zur zweitgrößten Handelsnation auf und wurde erst in den 2000ern durch den Aufstieg Chinas auf den dritten Platz verdrängt.
Von der Annexion der DDR zum Ukraine-Krieg
Der deutsche Imperialismus hatte immer das Ziel, die Nachkriegsordnung zu seinen Gunsten zu verändern. Einer der wichtigsten Schritte dabei war die Einverleibung der DDR durch die BRD im Jahr 1989/1990, die größte Annexion ohne Krieg in der Geschichte des Imperialismus. Sie sicherte zusätzliche Absatzmärkte und ermöglichte eine Bereicherung der westdeutschen Monopole an der Bevölkerung der DDR und ihrer Produktion. Damit waren zwar nicht alle durch den Krieg verlorenen Gebiete wieder Teil Deutschlands (die BRD gab erst mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 Ansprüche auf Gebiete östlich der Oder-Neiße-Grenze auf), jedoch genug, um sich damit vorerst zufrieden zu geben. Nach der Annexion der DDR und der Auflösung der Sowjetunion veränderten sich so die Machtverhältnisse in Europa erneut. Die EU wurde gegründet, dadurch ein gemeinsamer Markt geschaffen, in dem die Freiheit des Kapital- und Warenexports herrscht und der Euro eingeführt, der beides innerhalb von Europa massiv ankurbelte. Die anderen europäischen Länder konnten sich nun u. a. nicht mehr durch Abwertung ihrer Währungen vor einer Überschwemmung mit Waren aus Nordeuropa und insbesondere Deutschland schützen.
Die Weltwirtschaftskrise 2008/2009 überstand der deutsche Imperialismus vergleichsweise schnell und nutzte sie, um in diesen Jahren seine Führungsposition in Europa weiter auszubauen. Zum Beispiel als Verwalter der Rettungsfonds, mithilfe derer u. a. in Griechenland und Italien Sparprogramme erzwungen wurden. Diese machten den Weg frei für den Aufkauf von Staatsbesitz durch deutsche Monopole. Gleichzeitig zeigte diese Krise, wie das deutsche Exportmodell durch zwischenimperialistische Widersprüche ins Wanken geraten kann.
Militärisch sollte die Bundeswehr ab 1990 Deutschlands „internationaler Verantwortung“ nachkommen, wie der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (1930-2017) bereits einen Tag nach der „Wiedervereinigung“ erklärte. Dafür wurde sie von einer großen Armee für die „Landesverteidigung“ zu einer spezialisierten Armee umgebaut, die vor allem im Rahmen von Besatzungs- und Kontrolleinsätzen im Ausland bestimmte Aufgaben erfüllen sollte. Ihr Personal wurde auf 370.000 Personen beschränkt und die Anzahl an Standorten wurde reduziert. In den folgenden Jahren wurde die Anzahl der Soldat:innen immer weiter gesenkt und 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt.9 Mit der Annexion der Krim durch Russland begann 2014 ein erneuter Wandel, der wieder zu einer Erhöhung der Militärausgaben und auch der Rüstungsproduktion in Deutschland führten. Mit dem Angriff Russlands auf die Gesamt-Ukraine seit 2022 hat diese Entwicklung massiv an Geschwindigkeit zugenommen. Im Vordergrund steht heute wieder die „Landes- und Bündnisverteidigung“, zu deren Zweck Soldat:innen an die Ostgrenze der NATO verlegt werden. Deutschland war und ist aber heute und auf absehbare Zeit zunächst nicht mehr in der Lage, einen Weltkrieg von sich aus zu führen, sondern ist dabei auf Bündnispartner angewiesen. Die Priorität des deutschen Imperialismus ist heute vor allem, sich für weitere Kriege in eine möglichst günstige Ausgangslage zu bringen.
Die aktuelle Lage des deutschen Imperialismus
Heute ist überall auf der Welt der Kapitalismus die vorherrschende Produktionsweise. Wir leben in einem imperialistischen Weltsystem, das imperialistische Staaten verschiedener Einflussstärke und abhängige, neokolonial und kolonial unterdrückte Staaten umfasst. Der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus treibt den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung durch die Weltmonopole und das Finanzkapital auf die Spitze. Seit 2008/2009 befindet sich darüber hinaus das aktuelle Modell der globalen Produktion in der Krise.10
Auf Weltebene ist die Konkurrenz zwischen den USA und China als den mächtigsten imperialistischen Kräften ein zentraler Angelpunkt. Die USA versuchen ihre Hegemonie zu verteidigen, während China als aufsteigender Staat sie in immer mehr Bereichen herausfordert.
Deutschland ist auf Weltebene auch davon abhängig, wie sich dieser und andere Konflikte weiterentwickeln. Grundsätzlich war das deutsche Bündnis mit den USA seit 1945 immer das bestimmende. Ernsthaft in Frage gestellt wurde das auch von keiner politischen Partei, und verstärkte Beziehungen z. B. zu Russland waren ergänzend, anstatt dass sie jemals einen Ersatz hätten darstellen können. Aus den USA selbst, in Donald Trumps Amtszeiten aber auch unter Joe Biden, wurde immer wieder mit einer stückweisen Auflösung der „transatlantischen“ Bündnisse gedroht und einzelne Maßnahmen in diese Richtung umgesetzt. Die USA haben klar gemacht, dass sie sich auf die Auseinandersetzung mit China konzentrieren werden, und dass die Europäer sich um sich selber kümmern sollen. Damit setzten sie seit den letzten Jahren Bestrebungen um, die schon z. B. 2011 von der damaligen US-Außenministerin Hillary Clinton unter der Überschrift „America’s Pacific Century“ (dt. Das pazifische Jahrhundert der Vereinigten Staaten) formuliert wurden.11
Die Beziehungen zu China haben sich über die Jahrzehnte ebenfalls verändert. Ab den 2000ern war China vor allem Standort für billige Produktion und ein Absatzmarkt für Autos, Chemieerzeugnisse und Maschinen aus Deutschland. Der über Jahrzehnte bestehende Kapitalexport führte aber gleichzeitig zu einer schnellen Entwicklung der chinesischen Industrie. Die Handelsbeziehungen wurden immer weniger einseitig was das Export-Import-Verhältnis betrifft. 2023 war China auf Rang eins der deutschen Handelspartner beim Import und auf Platz 4 beim Export, wobei die Importe die Exporte seit Jahren stark übersteigen.12 Besonders im Bereich der Elektrotechnik importiert Deutschland viele Vorprodukte, und auch Seltene Erden kommen überwiegend aus China. In der China-Strategie der Ampelregierung von 2023 wird das Land als „Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“ bezeichnet.13 Partner soll China in Wirtschafts- und Handelsbeziehungen bleiben, eine Entkopplung der Wirtschaft wird abgelehnt – wobei eine kurzfristige Entflechtung auch schlicht unmöglich wäre. Unternehmen, die besonders in ihr China-Geschäft investieren, sind z. B. BASF, Volkswagen oder Continental. So hat BASF 2023 angekündigt, zehn Milliarden Euro in ihren chinesischen Standort zu investieren.14 Hinter „systemischer Rivalität“ steckt die geostrategische Konkurrenz, deren Zuspitzung als Zunahme von Elementen „der Rivalität und des Wettbewerbs“ in der deutsch-chinesischen Beziehung beschrieben wird. Das chinesische Verhältnis zu Russland und zu den USA ist ebenfalls eine Herausforderung für Deutschland, das weiter mit allen Bündnisse eingehen und möglichst breiten Handel treiben will.
Die wirtschaftliche Lage
Die aktuelle wirtschaftliche Lage der deutschen Unternehmen ist geprägt von einem Rückgang der Industrieproduktion seit 2017, den darauf folgenden Jahren der Corona-Pandemie und den Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine. Die Industrieproduktion liegt heute weiter deutlich unter ihrem letzten Höchststand Ende 2017 und eine dauerhafter Erholung der deutschen Industrie ist nicht in Sicht.
Besonders getroffen hat der Ukraine-Krieg die energieintensiven Bereiche der Industrie, da der Wegfall von günstigem russischem Gas für einen starken Gas- und Strompreisanstieg gesorgt hat. Zu den energieintensiven Bereichen gehören laut dem Statistischen Bundesamt die Chemie-, Metall-, Papier- und Glasindustrie sowie die Kokerei und Mineralölverarbeitung. Nicht dazu zählt z. B. der Maschinenbau.15 Der Industriesektor machte in Deutschland 2023 28,1 Prozent aus (Frankreich: 18,7 Prozent; Großbritannien: 16,9 Prozent).16 Im Gegensatz zur Produktion ist die Bruttowertschöpfung in der Industrie insgesamt um 0,6 Prozent seit 2019 gestiegen.17 Bei der preisbereinigten Bruttowertschöpfung handelt es sich um den erzielten Wert der Produktion nach Abzug aller bezogenen Vorleistungen. Bei der Industrieproduktion hingegen wird die Gesamtheit aller Güter erfasst.
Im Technologie-Bereich hinkt Deutschland hinter anderen Ländern hinterher. Hier führen die USA, z. B. mit dem Konzern Nvidia, der 90 Prozent des Marktes für Grafikprozessoren und 80 Prozent für KI-Chips hält.18 Bei Geschäftssoftware ist SAP das einzige deutsche Unternehmen, das mit US-Unternehmen konkurrieren kann. Gleichzeitig gibt es spezielle Bereiche, in denen deutsche Unternehmen Marktführer sind. So z. B. das Start-Up Celonis im Bereich Process Mining, in dem es um Software für die Visualisierung, Analyse und Optimierung von Geschäftsprozessen geht.19 Außerdem wurde die fortgeschrittenste Technologie in der Halbleiterherstellung gemeinsam von der Trumpf SE + Co. KG und der Carl Zeiss AG gemeinsam mit dem dem Frauenhofer Institut entwickelt, mit der seit 2024 Maschinen für TSMC, Samsung und Intel produziert werden.20 Im KI-Bereich kann Deutschland ebenfalls nicht mit der amerikanischen Open-AI oder dem chinesischen Deepseek konkurrieren. Dafür gibt es spezialisiert KI für Forschung und für Unternehmen.21
Ebenfalls in besonders spezialisierten Bereichen führend sind weiterhin deutsche Rüstungsunternehmen. Dazu gehört Rheinmetall im Panzerbau, Thyssenkrupp bei U-Booten und Diehl bei Raketen- und Sensorsystemen. Zu den Endherstellern kommen zahlreiche Zulieferer, die von der Informationsstelle Militarisierung auf etwa 1350 Unternehmen geschätzt werden.22
Der Wert der geplanten ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland lag 2023 bei 34,8 Milliarden Euro.23 Viele Unternehmen investieren im Bereich Halbleiter, Batterieproduktion und -recycling und wollen Produktion ansiedeln oder Forschung und Entwicklung betreiben. Wobei in diesem Bereich auch eines der größten Projekte aktuell auf Eis liegt: Die zwei Chipfabriken von Intel in Magdeburg. 30 Milliarden Euro sollten investiert werden und die Bundesregierung wollte das Projekt mit zehn Milliarden Euro subventionieren. Dann stoppte der Konzern das Projekt, wobei eine endgültige Entscheidung erst 2026 getroffen werden soll.24 Weitere Großkonzerne, die Investitionen angekündigt haben, sind u. a. Apple (eine Milliarde Euro für sein europäisches Zentrum für Chip-Design in München) und TSMC aus Taiwan (10 Milliarden Euro für eine Chipfabrik in Dresden).
Der Spuk der „Deindustrialisierung“
Im Zusammenhang mit der schwächelnden wirtschaftlichen Situation in Deutschland fällt häufig der Begriff der Deindustrialisierung, die als besonderes Risiko gewertet wird. Im Kontext der aktuellen Lage handelt es sich heute aber lediglich um einen Kampfbegriff der Kapitalist:innen, um ihre Interessen stark zu machen. Im Vergleich mit anderen imperialistischen Ländern macht die Industrie in Deutschland einen deutlich größeren Anteil am BIP aus. So liegt der Anteil der Industrie am BIP in Deutschland 5,5 Prozentpunkte über dem Durchschnitt der EU und fast 10 Prozentpunkte über dem des größten EU-Konkurrenten Frankreich. Dabei haben alle Imperialisten über Jahrzehnte einen großen Teil ihrer Industrie in Länder verlagert, in denen sie billiger produzieren konnten. Den Löwenanteil der Profite streichen trotzdem die Monopole in Deutschland, Frankreich usw. ein, auch wenn ihre Fabrik in Indonesien oder Mexiko steht. Heute ist der konkrete Ausdruck der Krise in der deutschen Industrie nicht ihr Verschwinden, sondern vor allem Stellenabbau, z. B. bei VW oder BASF. Was ansteht, und die Kapitalist:innen tatsächlich vor reale Probleme stellt, ist eine Transformation ihrer Kernindustrien. Diese wird aktuell vor allem durch technologische Entwicklungen, wie die Elektromobilität und Künstliche Intelligenz, und die darin fortgeschrittenere Konkurrenz vorangetrieben.
Als weitere Transformation kommt ebenfalls die sogenannte „Energiewende“ hinzu, d. h. die Umstellung der Stromerzeugung von fossilen Brennstoffen auf Wind-, Wasser- und Solarkraft. Diese Umstellung hat dabei wenig mit Klimaschutz zu tun, sondern kommt vor allem dem mit knappen Ressourcen ausgestatteten Deutschland entgegen. Bei der Stromerzeugung betrug 2023 der Anteil von Kohle, Erdgas und Kernenergie 48 Prozent und der Anteil erneuerbarer Energien 52 Prozent. Im ersten Halbjahr 2024 machten die erneuerbaren Energien einen Anteil von 61,5 Prozent aus.25 Laut der Bundesregierung soll bis 2030 rund 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen produziert werden. Kohle ist vor allem zentral für die Absicherung der Stromleistung und einer stabilen Frequenz im Stromnetz. Erdgas sollte den Ausstieg aus der Kohleverstromung ermöglichen, wurde aber durch die Folgen des Ukraine-Kriegs und die Zerstörung der Nordstream-Pipelines teurer und knapper. Russische Lieferungen machten 2020 noch etwa 55 Prozent des Gasimports aus. In der Konsequenz des Ukraine-Kriegs wurde viel mehr Flüssigerdgas (LNG) aus u. a. Norwegen, den USA, Kanada und Aserbaidschan importiert und die Infrastruktur dafür ausgebaut.
Die Schuldenfrage
Eine industrielle und energietechnische Transformation wird Unternehmen und den Staat viel Geld kosten. Eine Möglichkeit, die Mittel dafür zu sammeln, ist Schulden aufzunehmen.
Weltweit wächst der Schuldenberg auch immer weiter an. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet damit, dass die globale Schuldenquote – also das Verhältnis der weltweiten Schulden zur jährlichen Wirtschaftsleistung (BIP) – bis 2030 auf fast 100 Prozent steigen wird. Das bedeutet, dass die gesamten Schulden der Welt in etwa der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung entsprechen. Getrieben wird der Schuldenstand vor allem von China und den USA.26 Deutschland geht bislang gegen den Trend. 2024 lagen die Staatsschulden hier bei 63 Prozent des BIP (Japan: 251 Prozent; Frankreich: 112 Prozent; Großbritannien: 102 Prozent).27 Bislang hatte sich die deutsche Politik darauf beschränkt, lediglich Ausnahmeregelungen von der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse in Krisenzeiten zu nutzen. Eine geringe Staatsverschuldung hat für Deutschland vor allem den Vorteil, dass dadurch seine Währung stabil bleibt, was für eine Exportmacht ein wichtiger Faktor ist. Eine deutlich stärkere Verschuldung wäre ökonomisch aber für Deutschland aufgrund seiner ökonomischen Stärke durchaus möglich . Selbst wenn die Schuldenbremse nicht gelockert oder gleich komplett abgeschafft wird, können gigantische Schuldenberge auch im Rahmen von sogenannten Sondervermögen etwa für die weitere Aufrüstung oder Investitionen in Infrastruktur aufgenommen werden.
Demografie und Arbeitskräfte
Die Großkonzerne brauchen aber nicht nur Geld, sondern auch Arbeiter:innen, um Gewinne einzufahren. Insgesamt hat Deutschland mit 83,6 Millionen die größte Einwohnerzahl in Europa (ohne Russland und die Türkei). Gleichzeitig sterben in Deutschland seit Jahrzehnten mehr Menschen als hier geboren werden, wobei die Migration nach Deutschland dem Sinken der Bevölkerungszahl bislang entgegenwirkt. Die Anzahl an Menschen im sogenannten „Erwerbsalter“ von 20 bis 66 lag 2021 bei 51,4 Millionen und wird laut Prognosen bis Mitte der 2030er Jahre um 1,6 bis 4,8 Millionen sinken.28 In Ostdeutschland ist die Bevölkerung heute schon durchschnittlich deutlich älter als in Westdeutschland. Laut Prognosen wird deswegen die Zahl der 20- bis 66-Jährigen im Osten kontinuierlich abnehmen, während sie sonst tendenziell stagnieren wird.
Diese Entwicklungstendenz wirkt sich heute schon auf das gesetzliche Rentensystem aus und wird es in Zukunft noch stärker tun, da immer weniger Menschen arbeiten, dafür aber mehr Menschen Renten beziehen werden. Schon heute stehen einer Person in Altersrente nur rund zwei erwerbstätige Personen gegenüber. 1962 lag in Westdeutschland das Verhältnis noch bei eins zu sechs. Denn die Zahl der Rentenempfänger:innen wächst deutlich schneller als die Zahl an Arbeiter:innen, die Rentenbeiträge zahlen.29 Die absolute Zahl an Personen im Erwerbsalter wird zudem in Zukunft voraussichtlich sinken.30 Hinzu kommt, dass es dem deutschen Imperialismus besonders an spezialisierten Arbeiter:innen in verschiedenen Bereichen fehlt. Viele offene Stellen gibt es hier aktuell vor allem bei sozialen, gesundheits- und technischen Berufen.31 Die Antwort auf dieses Problem sieht der deutsche Imperialismus bislang darin, sowohl Frauen als auch Menschen im Rentenalter mehr und länger zu Vollzeitarbeit zu bringen. Dazu kommt die Notwendigkeit der Migration von Arbeiter:innen, wobei hier vor allem vom Staat versucht wird, die Migration im Interesse des Kapitals zu beeinflussen und zu steuern.
Die militärische Lage
Eugen Varga stellt in einer Untersuchung über den japanischen Imperialismus fest: „Die militärische Macht eines Landes wird durch zwei Hauptfaktoren bestimmt:
a) die ökonomische Stärke eines Landes,
b) die Festigkeit seines Gesellschaftssystems.“32
Beide Faktoren bilden in Deutschland eine günstige Basis für den Aufbau einer militärischen Macht, deren Potential aber durch die Imperialisten bislang nicht vollständig ausgeschöpft wurde.
2024 umfasste die Bundeswehr 181.570 Personen im militärischen und 81.731 im zivilen Bereich. Die Soldat:innen bestehen aus Soldat:innen auf Zeit, Berufssoldat:innen, freiwillig Wehrdienstleistenden und freiwillig Wehrdienstleistenden im Heimatschutz. Erstere machen mit ca. 113.000 die größte Gruppe aus. Etwas mehr als 13 Prozent der Soldat:innen sind Frauen.33 Die aktuellen Zahlen über ihre Ausstattung mit Waffensystemen hält die Bundeswehr geheim, um die Einschätzung ihrer Stärke zu erschweren. Laut eines Berichts des Kieler Instituts für Weltwirtschaft hat sich die Beschaffung von neuen Waffen aber seit Ende 2023 beschleunigt. Bei vielen Waffentypen würde es mit der aktuell durchschnittlichen Anzahl der Bestellungen pro Jahr aber noch mehrere Jahrzehnte dauern, bis überhaupt der Bestand von 2004 wieder erreicht wäre. Dies liegt auch an einem deutlichen Rückgang der Rüstungsindustrie in Europa seit den 1990er Jahren bis ins Jahr 2015. So lag der Bestand an z. B. Kampfpanzern der Bundeswehr 2021 bei 339 und 2004 bei 2.398, wobei zwischen Februar 2022 und Juli 2024 im Durchschnitt jährlich 49,2 Panzer bestellt wurden. Damit würde ohne Abgabe, Ausmusterung oder Verlust von Panzern im Jahr 2038 der Bestand von 2004 wieder erreicht werden.34 Deutschland besitzt keine Atomwaffen und hat den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben und ratifiziert, der ihre Herstellung und Beschaffung verbietet. Gleichzeitig ist es Teil der Nuklearstrategie der NATO. Dadurch befinden sich amerikanische Atomwaffen in Deutschland, die auch im Kriegsfall von deutschen Kampfflugzeugen transportiert und eingesetzt werden dürften. Gleichzeitig kann Deutschland über diese eben nicht eigenständig verfügen.
Zum Zweck der Kriegsvorbereitung wurde im April 2024 mit der Umstrukturierung der Bundeswehr begonnen. Mit dem „Osnabrücker Erlass“ wurden dafür die Grundsätze festgelegt. Das Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) schreibt dazu: „Mit den Anfang April beschlossenen Strukturänderungen fokussiert sich der Geschäftsbereich des BMVg wieder auf eine zeitgemäße Landes- und Bündnisverteidigung. Dies stellt eine Abkehr vom Kontingentdenken der letzten Jahre dar, das den seit März 2012 geltenden Dresdner Erlass prägte. Um die Bundeswehr auf eine kriegstüchtige Bundeswehr der Zeitenwende auszurichten gilt es, die Verantwortlichkeiten, Entscheidungsbefugnisse und das Zusammenwirken aller Ebenen grundlegend zu bestimmen.“35 Teil der Umstrukturierung ist, dass als vierte Teilstreitkraft der Bereich „Cyber- und Informationsraum“ zu Heer, Marine und Luftwaffe hinzukommt. Zudem werden dem neuen Operativen Führungskommando alle Bundeswehreinsätze im In- und Ausland unterstellt und die Trennung von Einsatzführungskommando und dem Territorialen Führungskommando aufgelöst.36
Zusätzlich wurde mit dem „Operationsplan Deutschland“37 in den letzten Jahren ein Strategiepapier erarbeitet, das detaillierte Planungen für einen Kriegsfall enthält. Das geheime Dokument wurde von der Bundeswehr gemeinsam mit Verantwortlichen aus dem Bund, den Ländern und Kommunen, von der Polizei, Feuerwehr und dem Technischen Hilfswerk und von Unternehmen erstellt, wobei das Territoriale Führungskommando der Bundeswehr die Verantwortung trägt. Er enthält sowohl Pläne für den Kriegsfall in Deutschland, als auch für den Auf- und Durchmarsch von NATO-Streitkräften bis an die NATO-Ostgrenze. Bei einem Angriff Russlands auf die NATO würde der größte Teil der aktiven Soldat:innen nach Litauen verlegt werden, während in Deutschland die territoriale Reserve, der „Heimatschutz“, verbleibt. Dazu würde die Einbindung von Ehrenamtlichen (z. B. aus dem Roten Kreuz, den Maltesern, usw.) kommen.
Neben den Strukturen des Ehrenamts kann Deutschland im Kriegsfall auch auf eine breite industrielle Basis zurückgreifen. Obwohl eine Störung der internationalen Produktionsketten verheerende Folgen hätte, haben dennoch der Maschinenbau, die Elektro-, Metall-, Chemie- und Pharmaindustrie zentrale Standorte auch in Deutschland, in denen produziert werden kann.
Die politische Lage
Neben seiner grundsätzlichen ökonomischen Macht war historisch die Stabilität seines politischen und gesellschaftlichen Systems eine große Stärke des deutschen Imperialismus. Ein Ausdruck davon ist, dass es seit 1945 keine Regierung ohne Beteiligung entweder der SPD oder der CDU/CSU gab und Regierungswechsel selbst kaum grundsätzliche Veränderungen mit sich brachten. So wurden z. B. mit der Agenda 2010 von einer rot-grünen Regierung umfassende Kürzungen des Sozialsystems durchgeführt, die so auch von CDU und FDP unterstützt wurden.
Politische Instabilität und z. B. Minderheitsregierungen sind in anderen Ländern nicht ungewöhnlich, in Deutschland hingegen die Ausnahme. Das Erstarken der Faschist:innen, das Schrumpfen der „Volksparteien“ CDU und SPD, und auch der Bruch der Ampel-Koalition 2024 sind Anzeichen dafür, dass die politische Stabilität mehr bedroht ist und sich auch hier Veränderungen zeigen.
Während die bürgerliche Demokratie in Deutschland zahlreiche Integrationsmöglichkeiten bietet, machen diese den Staat aber auch zum Teil besonders bürokratisch und langsam. In Hinblick auf die gestiegene Geschwindigkeit, mit der Entwicklungen auf Weltebene stattfinden, stellt sich auch hier die Frage nach größeren Umstrukturierungen in Richtung autoritärerer Herrschaft, die auch mal „durchregiert“ und einem größeren Fokus auf Repression legt, um auch in unruhigeren Zeiten den Staat und die Wirtschaft abzusichern.
Perspektiven der weiteren Entwicklung
Aus den dargestellten Entwicklungen und in der aktuellen Lage ergeben sich verschiedene Probleme, vor denen der deutsche Imperialismus heute steht. Wie es für ihn in den nächsten Jahren weitergeht hängt nicht nur oder vor allem von Bundestagswahlen oder dem Willen einzelner Kapitalverbände ab, sondern ist u. a. eng mit der weiteren Entwicklung der Weltlage, dem Kampf zwischen den USA und China und nicht zuletzt mit der Entwicklung des Widerstands der Arbeiter:innenklasse hierzulande verbunden. Alle imperialistischen Staaten wollen ihre Stellung in der Weltordnung verteidigen oder stärken. Trotz der Herausforderungen, vor denen Deutschlands Monopolkapitalist:innen stehen, werden sie nicht einfach das Handtuch werfen, sondern stattdessen aller Voraussicht nach noch stärker und eben auch aggressiver versuchen, ihre eigenen Interessen durchzusetzen und dafür die notwendigen Maßnahmen umsetzen.
Begonnen haben sie damit bereits schon auf militärischem Gebiet. Mit der „Zeitenwende“ wurde der Kurs auf Aufrüstung und Militarisierung festgelegt. Die Umsetzung einer vollständigen Wehrpflicht (auch unabhängig vom Geschlecht) braucht sicher noch einige Jahre, bis sie rein logistisch umsetzbar wäre, aber spätestens in 5-10 Jahren könnte dieses Problem vermutlich behoben sein. 2027 soll bereits die volle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr-Brigade in Litauen hergestellt sein. Damit hat Deutschland laut Kriegsminister Boris Pistorius dort bereits „eine Führungsverantwortung im Bündnis hier an der NATO-Ostflanke“.38 Da die USA sich immer weiter aus Europa zurückziehen wollen, wird dies weitere Lücken öffnen, die der deutsche Imperialismus füllen könnte. Dadurch würde gleichzeitig die Konkurrenz zu England, Frankreich und Polen stärker hervortreten.
In der Frage der Atomwaffen spielt das Verhältnis zu Frankreich und England ebenfalls eine bedeutende Rolle, denn im Gegensatz zu Deutschland zählen beide Länder zu den Atommächten. Frankreich besitzt Flugzeuge mit nuklearen Raketen mit kürzerer Reichweite und vier Atom-U-Boote mit strategischen Langstreckenraketen, Großbritannien ebenfalls vier Atom-U-Boote. Über die Errichtung eines europäischen Nuklearschirms mit französischen Atomwaffen wurde schon in der Vergangenheit debattiert, wobei Deutschland stets zur Bedingung stellte, Kontrolle über potentiell bei sich stationierte Waffen zu haben, was Frankreich bislang abgelehnt hat. Im Zuge des angekündigten strategischen US-Rückzugs, der auch zu einem Abzug der amerikanischen Atomwaffen aus Europa führen könnte, begann die Diskussion jedoch erneut.39 Für Deutschland wäre eine Einigung günstig, da eigene deutsche Atomwaffen die Aufkündigung zahlreicher Verträgen bedeuten, den Ausstieg aus der Atomenergie rückgängig machen und extrem teuer werden würde und damit auf absehbare Zeit nicht in Betracht kommt.
Dass die deutschen Militärausgaben so oder so weiter steigen werden, ist jetzt schon deutlich, auch wenn noch unklar ist, um wie viel. 2024 wurden 11 Prozent des Bundeshaushalts für Verteidigung ausgegeben (51 Milliarden Euro, ohne das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen). In Zukunft ist geplant, die Rüstungsausgaben von der Schuldenbremse auszunehmen. Wird in Zukunft das NATO-Soll-Ziel von zwei Prozent vom Brutto-Inlands-Produkt (BIP) umgesetzt, würde der Anteil auf 18 Prozent vom Bundeshaushalt (86 Milliarden Euro) ansteigen. 3,5 Prozent des BIP, wie von manchen Politiker:innen aktuell gefordert, würden ganze 31,5 Prozent des Bundeshaushalts (150 Milliarden Euro) ausmachen.40
Ebenfalls wird die Bedeutung von deutschen Rüstungsunternehmen weiter zunehmen. Deutschland und die EU wollen sich auf „einheimische“ Waffen stützen41 und die deutsche Rüstungsindustrie erscheint als möglicher Treiber des Wirtschaftswachstums. Hinzu kommt, dass unrentable zivile Industriestandorte für sie nutzbar gemacht werden können, wie es bereits in Görlitz mit dem Verkauf eines Alstom-Werks an KNDS passiert ist.42 VW mischt schon jetzt mit seinem Tochterunternehmen Renk im Rüstungsgeschäft mit, das als Weltmarktführer bei Getrieben für Panzer und Kriegsschiffe gilt. Über das von der Krise von VW betroffene Osnabrücker VW-Werk gab es bereits Ende 2024 Gerüchte, dass es an einen Rüstungskonzern verkauft werden soll, seitdem jedoch keine weiteren Meldungen.43
Bis die Rüstungsindustrie z. B. die Einbußen der Automobilindustrie auffangen könnte, ist es dennoch ein weiter Weg. Der deutsche Imperialismus muss es schaffen, seine Wirtschaft langfristig neu aufzustellen und darf in der technologischen Weiterentwicklung nicht zu weit zurückfallen. Zur Veränderung seiner Industrie gehört auch, dass er seine Energieversorgung langfristig sichern muss, was nicht nur die Frage der Erzeugung, sondern auch der dazugehörigen Infrastruktur, des Netzausbaus usw. betrifft. Ebenso der Umgang mit dem demografischen Wandel: Tausende Arbeiter:innen werden in den nächsten Jahren in Rente gehen, was nicht einfach für immer und überall durch Migration ausgeglichen werden kann. Eine Antwort darauf wird in der Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren gesehen.
Ein zentrale Frage für alle Bereiche bleibt die Entwicklung der Wirtschaft. Um den großen Monopolen unter die Arme zu greifen und sie aus der Krise zu holen, will die kommende Regierung bereits ein Sondervermögen von 500 Milliarden Euro an Infrastrukturprojekten auf den Weg bringen. Eine mögliche Ausweitung der Märkte für deutsche Unternehmen zeichnet sich zudem in Lateinamerika und in Osteuropa ab, was auch durch den Rückzug der USA aus diesen Gebieten begünstigt werden würde. Das würde Deutschland zwar immer noch nicht in eine ökonomische Liga mit den USA und China bringen, aber seine Stellung gegenüber Frankreich und auch Russland stärken.
Ob die deutsche Wirtschaft auf- oder absteigt: Den Preis dafür werden im Kapitalismus die Arbeiter:innen bezahlen. Wir können davon ausgehen, dass in den nächsten Monaten und Jahren eine Reihe von Angriffen auf die Arbeiter:innnenklasse durchgeführt werden: Mit der Militarisierung und der Kriegsvorbereitung wurde hier schon längst begonnen, auch wenn die direkten Auswirkungen auf das Leben vieler Menschen noch ausbleiben. Was heute schon gespürt wird, sind das Abwälzen von hohen Industriepreisen und die Entlassungen, die uns auch in Zukunft weiter begleiten werden. Für die möglichen hunderten Milliarden an Krediten zur Unterstützung der Monopole und die Finanzierung der Aufrüstung können ebenfalls stärkere Kürzungen in den Sozialsystemen und -leistungen auf uns zukommen, wo bisher nur vorsichtig und teilweise Schritte in diese Richtung gegangen wurden. Um dem demografischen Wandel und Fachkräftemangel zu begegnen gibt es bereits Forderungen, die tägliche Höchstarbeitszeit aufzuweichen, dass Rentenalter immer weiter zu erhöhen und Rentner:innen stärker wieder zum Arbeiten zu bringen. Unter dem Deckmantel des „Bürokratieabbaus“ könnten zudem Regulationen z. B. in Bezug auf Umwelt- und Arbeitsschutz abgeschafft werden.
Grundsätzlich besitzt der deutsche Imperialismus alle Voraussetzungen, um auch seine aktuelle schwächere Phase für einen Sprung nach vorne zu nutzen. Aufgrund der sich immer schneller zuspitzenden Widersprüche bleibt ihm dabei aber nicht ewig Zeit, was radikalere Veränderungen und Varianten wahrscheinlicher macht als eine Fortsetzung des aktuellen Status Quo.
Kampf um die Umsetzung
Auch wenn die Kapitalist:innen die herrschende Klasse darstellen, können sie ihre Wünsche nicht einfach so durchsetzen. Auf politischer Ebene braucht der deutsche Imperialismus Kräfte, die in der Lage sind, diese Maßnahmen gegen die große Mehrheit der Bevölkerung, die Arbeiter:innenklasse, durchzusetzen oder sie im besten Fall sogar gegen ihre eigenen Interessen einzuspannen. Den offeneren Konkurrenzkampf auf ökonomischer wie politischer Ebene nutzen diese, um die Gesellschaft nach rechts zu treiben. Desto schärfer die Widersprüche auf internationaler Ebene werden, desto schärfer werden die notwendigen Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse aus der Sicht der Kapitalist:innen und ihrer Politiker:innen. Die AfD wird in den nächsten Jahren weiter normalisiert und eine Regierungskoalition mindestens vorbereitet werden. Ein zentraler Grund, der dem bisher entgegenstand, war vor allem eine vermeintlich zu starke Abgrenzung von den USA durch die AfD. Durch den aggressiven Kurs der aktuellen US-Regierung sprechen aber auch eingefleischte „Transatlantiker“ wie Friedrich Merz (CDU) von der Notwendigkeit einer größeren Unabhängigkeit von den USA. Jede Regierung wird in Zukunft entsprechende Maßnahmen umsetzen. Dabei werden nicht nur kurzfristige Veränderungen durchgeführt, sondern auch langfristig andere Standards gesetzt werden.
Neben ihrer Präsenz im Parlament in Form der AfD treibt die faschistische Bewegung auch auf der Straße und in den Medien diese Entwicklung voran. Parteien und Organisationen wie Der Dritte Weg oder die Neue Stärke Partei bedrohen Linke, Migrant:innen oder LGBTI+ Demonstrationen bereits heute auf offener Straße. Faschistische Denkfabriken und Theoriemagazine wie die Sezession, deren Chefredakteur Götz Kubitschek enge Verbindungen u. a. zu Björn Höcke hat, die sich selbst als „rechtsintellektuell“ beschreiben, legen dafür ideologische Grundsteine, und rechte Boulevardmedien wie NIUS, das vom ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt betrieben wird, verbreiten die faschistische Propaganda dann massenhaft. Trotz den verschiedenen Widersprüchen, die es auch innerhalb der faschistischen Bewegung gibt, sorgen sie insgesamt dafür, den aggressivsten Kurs des deutschen Imperialismus voran zu bringen.
Als offene Interessenvertretung des Kapitals wirken außerdem die zahlreichen Unternehmensverbände (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Deutsche Industrie- und Handelskammer, Gesamtmetall, usw.) und ihre Denkfabriken (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, usw.). Über ihre eigenen Auftritte in der Öffentlichkeit hinaus verbreiten sie die Forderungen der Kapitalist:innen auch über die Medienmonopole z. B. der Bertelsmann Stiftung (u. a. RTL Group) oder Axel Springer Verlagsgruppe (u. a. Welt, Business Insider, Politico). Der Verlag der Bertelsmann Stiftung gibt auch zahlreiche Bücher für Schulen und Ausbildungsstätten heraus, wo sie beispielsweise zusammen mit Texten der Bundeszentrale für politische Bildung (die wiederum zum Innenministerium gehört) den Unterricht im Interesse der Kapitalist:innen gestalten.
Der über verschiedene Wege voran getriebene Rechtsruck erzeugt gleichzeitig eine Gegenbewegung, die fortschrittliche bis revolutionäre Kräfte stärken kann. Jeder Angriff kann nur unter der Gefahr der stückweisen Auflösung der gesellschaftlichen Stabilität durchgeführt werden. Damit steigt auch das Potential für Protest und Widerstand. Ein Beispiel dafür waren die massenhaften Demonstrationen gegen rechts und gegen die gemeinsame Abstimmung der CDU mit der AfD kurz vor der Bundestagswahl 2025. Vor allem die Linkspartei konnte dadurch in ihrer Geschichte einmalige Erfolge erzielen. Auch die DGB-Gewerkschaften, die heute grundsätzlich systemerhaltende Funktion einnehmen, werden jedoch durch ihre Basis zu Aktionen gegen Stellenabbau, Reallohnverlust usw. gedrängt.44
Unsere Antwort
Der deutsche Imperialismus hat es historisch aus sehr vielen für ihn sehr schwierigen Lagen wieder heraus geschafft. Von alleine wird er also nicht fallen – dazu braucht es eine schlagkräftige Arbeiter:innenklasse und eine sozialistische Revolution. Aber wie kommen wir diesen Zielen unter diesen Umständen näher?
So wie in den Ministerien, Denkfabriken, Instituten usw. daran gearbeitet wird, die Strategie des deutschen Kapitals zu entwickeln und der Weltlage anzupassen, so müssen auch wir als Kommunist:innen unsere Antworten auf diese Entwicklungen finden. Grundsätzlich ist die Arbeiter:innenklasse heute immer noch die einzige gesellschaftliche Kraft, die positiv in die Entwicklung des Imperialismus eingreifen kann, indem sie ihn zerschlägt. In Deutschland ist es unsere Aufgabe, dem deutschen Imperialismus keine freie Bahn in seiner Entwicklung zu lassen.
Geht es dabei um die kurzfristigen Herausforderungen, dann müssen wir schon jetzt gegen jeden Angriff kämpfen, um uns nicht zu einem späteren Zeitpunkt in einer noch schlechteren Situation wiederzufinden. Bevor z. B. das Rentenalter weiter nach oben verschoben oder die wöchentliche Arbeitszeit angehoben wird, müssen wir auch schon gegen „freiwillige“ Anreize für Mehrarbeit (und dadurch größere Ausbeutung) kämpfen. Soll die Wehrpflicht wieder eingesetzt werden, hunderte Milliarden für die Aufrüstung ausgegeben werden und die deutsche Rüstungsindustrie Weltmarktführer werden, gewinnt der antimilitaristische Kampf an besonderer Bedeutung, auch bevor Bundeswehrsoldat:innen an der Ostfront in Kämpfe verwickelt sind. Gegen die Vorbereitungen für einen nächsten großen imperialistischen Verteilungskrieg muss die Arbeiter:innenklasse international aktiv werden. Beispielhaft dafür stehen bereits die Proteste gegen den Krieg und Völkermord in Gaza. Krisen und Kriege in anderen Teilen der Welt werden ebenfalls weiter Widerhall in Deutschland finden und müssen von Kommunist:innen aufgegriffen werden, um alle Teile der Arbeiter:innenklasse, die hier leben, zu aktivieren und zu organisieren.
Dazu gehört auch, die besonderen Auswirkungen von Krisen und Angriffen auf die Frauen der Arbeiter:innenklasse aufzuzeigen und gegen das Erstarken vermeintlich „vergangener“ Ausdrücke des Patriarchats anzukämpfen, wie z. B. einer möglichen Verschärfung des Abtreibungsrechts, wie es in den USA bereits Realität ist. Eine stärkere Rückkehr zur Propagierung der Rolle der Hausfrau und Mutter ist gerade in Hinblick auf kriegerische Auseinandersetzungen nicht ausgeschlossen, auch wenn sie im Widerspruch zum geplanten weiteren Einzug von Frauen in den Arbeitsmarkt, der Erhöhung ihrer Arbeitszeiten und einer „Wehrpflicht für alle“ steht. Der deutsche Imperialismus benötigt beides und z. B. ein bürgerlicher Feminismus kann ihm dafür auch den Weg bereiten. Ganz im Sinne von: Frauen können selbst bestimmen, wie sie Deutschland dienen – ob an der Waffe oder an der Heimatfront. Die revolutionäre Alternative zu dieser falschen Wahl deutlich zu machen, ist ebenfalls eine zentrale Aufgabe.
Mit dem krisenhaften Ausdruck der sich zuspitzenden Widersprüche steigt das Potential für Umbrüche in den Lebensläufen unserer Klasse im Gesamten. Heute machen sich das vor allem faschistische Kräfte zu Nutze, indem sie Sorgen und Ängste der Menschen vor der Zukunft auf Feindbilder wie Migrant:innen oder LGBTI+ Personen lenken. Neben direkter antifaschistischer Arbeit und Konfrontation, um der Rechtsentwicklung etwas entgegenzusetzen, müssen Kommunist:innen es vor allem schaffen, selbst aus diesen Brüchen politische Aktivität zu erzeugen und Klassenbewusstsein bei den Menschen zu entwickeln.
Langfristig müssen daraus eine klassenkämpferische Arbeiter:innenbewegung und aus ihren fortschrittlichsten Kräften eine Kommunistische Partei wieder aufgebaut werden. Jede andere Strategie bleibt unter den aktuellen Bedingungen zum Scheitern verurteilt. So alt diese grundsätzlichen Erkenntnisse auch sein mögen, umso wichtiger ist das konkrete Arbeiten an ihrer Schaffung unter Anpassung an die dargestellte Lage, in Deutschland und auf der ganzen Welt. Dann liegt es auch in unseren Händen, in was für einer Welt wir in den nächsten Jahren leben werden.
1World Economic Outlook Database 2024, https://www.imf.org/en/Publications/WEO/weo-database/2024/October
2Varga, Eugen (1946): Die historischen Wurzeln der Besonderheiten des deutschen Imperialismus, Berlin – Leipzig 1946, Verlag der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, S. 11
3Die Menge an Banknoten, die sich im Umlauf befanden, überstieg die Warenmenge deutlich.
4Ebd., S. 16
5https://www.deutschlandfunk.de/gas-fracking-oel-kohle-uran-bodenschaetze-deutschland-energie-100.html
6Neben der benötigten Menge des produzierten Stroms ist vor allem die Speicherung von Überschüssen ein großes Problem.
7https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/deutschland-in-den-50er-jahren-256/10131/wirtschaft-in-beiden-deutschen-staaten-teil-1/
8https://www.ost-ausschuss.de/sites/default/files/2025-Handelszahlen/Deutscher%20Osthandel%202024.pdf
9https://www.bundeswehr.de/de/ueber-die-bundeswehr/geschichte-bundeswehr/reformen-bundeswehr
10Vgl. Smith, John (2016): Imperialism in the twenty-first century, Monthly Review Press, S. 279 ff.
11http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/USA/clinton.html
12Bezüglich der Handelsbilanz lag China im selben Jahr auf dem letzten Rang. https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Aussenhandel/Tabellen/rangfolge-handelspartner.pdf?__blob=publicationFile
13https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/asien/china-strategie/2607934
14https://www.basf.com/global/de/who-we-are/organization/locations/asia-pacific/our-engagement-in-china#item-1695368598541-704122995
15https://www.bundestag.de/resource/blob/1001612/9d30550023549da8958e5c71136bcb53/Anlage_zum_76_Protokoll.pdf
16https://de.statista.com/infografik/28507/anteil-des-industriesektors-am-bruttoinlandsprodukt/
17Handelsblatt Ausgabe 11. Oktober 2024 Seite 8
18 https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/stimme-aus-shanghai-deutschland-soll-mit-china-gemeinsam-us-dominanz-brechen-li.2293971
19https://www.celonis.com/analyst-reports/gartner-magic-quadrant-2024/
20https://www.zdf.de/wissen/deutscher-zukunftspreis/deutscher-zukunftspreis-2020-100.html
21https://www.wiwo.de/unternehmen/mittelstand/gipfeltreffen-der-weltmarktfuehrer-wir-muessen-uns-beim-thema-ki-keine-sorgen-machen/30201276.html
22https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/ruestungsindustrie-branche-waffen-101.html
23https://www.nzz.ch/wirtschaft/ist-der-standort-besser-als-sein-ruf-auslaendische-direktinvestitionen-in-deutschland-sind-stark-gestiegen-ld.1830380
24https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/landespolitik/Intel-Magdeburg-chipindustrie-sachsen-anhalt-trump-102.html
25Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes Nr. 334 vom 4. September 2024, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/09/PD24_334_43312.html
26https://www.tagesschau.de/ausland/iwf-verschuldung-deutschland-100.html
27https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2024/10/22/world-economic-outlook-october-2024
28https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/sozialbericht-2024/553026/zukuenftige-bevoelkerungsentwicklung/
29https://www.demografie-portal.de/DE/Fakten/altersrentner-beitragszahler.html
30https://service.destatis.de/bevoelkerungspyramide/index.html#!y=2043&a=20,67&v=4&g
31https://www.verdi.de/themen/arbeit/++co++74debf86-472f-11ee-894c-001a4a160129
32Varga, Eugen (1932): Der japanische Imperialismus im Mittelpunkt der Weltpolitik, aus: Ausgewählte Schriften 2, Pahl-Rugenstein 1982, S. 243
33https://www.bundeswehr.de/de/ueber-die-bundeswehr/zahlen-daten-fakten/personalzahlen-bundeswehr
34https://www.ifw-kiel.de/fileadmin/Dateiverwaltung/IfW-Publications/fis-import/1bcebf8c-84e8-4f3d-a7d3-1793b3ba9850-Kiel_Report_Nr_1.pdf
35https://www.bmvg.de/de/presse/osnabruecker-erlass-regelt-neue-grundsaetze-spitzengliederung-5778130
36https://www.bundeswehr.de/de/organisation
37https://www.bundeswehr.de/resource/blob/5761202/5101246ca9de726f78c4d988607532fc/oplan-data.pdf
38https://www.bundeswehr.de/de/aktuelles/meldungen/bundeswehr-litauen-grosse-schritte-deutsche-kampfbrigade
39https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9882
40https://www.imi-online.de/2025/01/22/nicht-verwirren-lassen/
41https://www.imi-online.de/2024/04/24/umschalten-auf-kriegswirtschaft/
42https://www.niederlausitz-aktuell.de/niederlausitz-aktuell/orte/nachbarn/288084/knds-uebernimmt-alstom-werk-in-goerlitz-produktion-von-panzern-ab-2025.html
43Ein Schweizer Medienportal hatte darüber berichtet, die Aussage aber wieder gestrichen – ohne Begründung oder Kennzeichnung. Dazu: https://www.hasepost.de/verkauf-von-volkswagen-osnabrueck-an-ruestungskonzern-schon-wieder-vom-tisch-548002/
44Zur Einschätzung des DGB als gelbe Gewerkschaft siehe den Artikel „Ist der DGB alternativlos?“ in dieser Ausgabe.