100 Jahre Hamburger Aufstand in Bildern und Worten – «Hamburg auf den Barrikaden»

Bei dem Buch „Hamburg auf den Barrikaden“ handelt es sich um einen literarischen Bericht über die Geschehnisse während und unmittelbar nach dem Aufstand im Oktober 1923 in Hamburg. Larissa Reissner hatte zuvor als junge sowjetische Kommunistin schon Reportagen über andere revolutionäre Kämpfe in Deutschland verfasst. Reissner nahm ebenfalls aktiv als Soldatin am Krieg der Roten Armee gegen die Konterrevolution teil, der unmittelbar auf die Oktoberrevolution folgte. Auch diese Erfahrungen verarbeitete sie literarisch.

Die Schilderungen in „Hamburg auf den Barrikaden“ reichen alleine nicht, um einen umfassenden Überblick über die Geschehnisse in Hamburg zu bekommen, sie sind nicht chronologisch geordnet, sondern schildern nacheinander Szenen des Aufstands aus verschiedenen Stadtteilen. Trotzdem bietet das dünne Buch einen wertvollen Einblick in die Arbeitsweise der Kommunist:innen, die Unterstützung des Aufstands aus den Massen und die Gründe dafür, dass er eine so zentrale Rolle in der Geschichte der Kommunistischen Bewegung in Deutschland einnimmt.

Wir veröffentlichen hier selbstgemalte Illustrationen zu einzelnen Passagen aus Reissners Bericht.

„Der Anfang der revolutionären Bewegung beginnt nicht im Oktober, sondern im August des Vorjahres, als Hamburg zu einer Arena von hartnäckigen und erbitterten Kämpfen für den Arbeitslohn, für den achtstündigen Arbeitstag, für die Entlohnung in Goldwährung, für eine ganze Reihe nicht nur ökonomischer, sondern auch rein politischer Forderungen wurde: Arbeiterregierung, Produktionskontrolle, usw. Diese gewerkschaftlichen Kämpfe waren begleitet von Streikausbrüchen und stürmischen Eruptionen des anwachsenden revolutionären Hasses, von der Demolierung von Lebensmittelläden, von einer harten Maßregelung der Streichbrecher und gelegentlicher Verprügelung der Polizei. Die Hamburger Arbeiterinnen haben sich in diesen Monaten besonders ausgezeichnet; im allgemeinen sind die Frauen einer großen Hafenstadt weitaus selbstständiger und politisch gereifter, als ihre Genossinnen in den meisten Industriezentren Deutschlands. Sie waren es, die im August des Vorjahres ihre Männer hinderten, die Arbeit in den streikenden Werften wiederaufzunehmen. Ihre lebendige Kette vermochten weder Polizeibajonette, noch kleinmütige Arbeiterhaufen, die bereit waren, jede Bedingung der Arbeitgeber anzunehmen, von dem Elbtunnel zu verdrängen und zu durchbrechen. Einer dieser Zusammenstöße endete mit der Entwaffnung und Verprügelung einer Polizei-Abteilung, zumal ihres Leutnants, der sie leitete und dafür im schmutzigen, kalten Elbwasser ein Bad nehmen musste.“

„In später Nacht Sitzung des „Kopfes“; die Leiter der Kampforganisation erhalten Befehle, die sie mit dem Gefühl der größten inneren Befriedigung empfangen. X., der einige Stunden lang für einen Aufschub kämpfte, der mit seiner Person alle Lücken verstopfte, durch die die Bewegung vorzeitig durchzubrechen drohte, – läßt die Zügel los, hebt alle Dämme, öffnet alle Hähne, die den brodelnden Strom des Aufstandes noch zurückhalten.
Um Mitternacht gehen die Führer auseinander, um die Mitglieder der Arbeiterhundertschaften zu benachrichtigen und zusammenzubringen. Die Partei in ihrer Gesamtheit und die breiten Massen der parteilosen Arbeiter sollten erst am Morgen von dem Aufstand erfahren, nachdem alle Polizeireviere von den Stoßtrupps der Kampforganisation besetzt wären. Der Sturm auf die Polizeibüros wurde am 23. Oktober gleichzeitig in allen Stadtteilen geplant und erst nachdem diese genommen waren – die Einnahme und Entwaffnung der Wandsbeker Kaserne. Die militärischen Leiter sollten bis zu diesem Augenblick die Nacht über mit ihren Leuten zusammenbleiben, niemand nach Hause entlassen und kein Licht anzünden; unter keinen Umständen durften die Leute „zur Verabschiedung von der Familie“ beurlaubt werden. Nur diesen Vorsichtsmaßregeln ist es zu verdanken, dass die Polizei überrascht und ohne weiteres entwaffnet werden konnte.“

„Die Barrikaden wuchsen wie aus der Erde, vermehrten sich mit unglaublicher Schnelligkeit. Es gab keine Sägen und keine Schaufeln, – man verschaffte sich welche. Die Bewohner wurden zu Erdarbeiten herangezogen, – schwitzend schleppten sie Steine herbei, wühlten das Pflaster auf und sägten die geheiligten Bäume der öffentlichen Gärten nieder; sie waren bereit, sich selbst in die Luft zu sprengen – nur um ihre Schränke und Kommoden, Betten und Küchen vor dieser wilden Bautätigkeit zu bewahren.
Nur eine alte Frau machte eine Ausnahme – sie berührte den Führer am Ärmel, und veranlaßte ihn, ihr zu folgen – um ihm ein starkes, breites Brett von ihrem Waschtisch – den Stolz der Wirtschaft – mitzugeben. Das Brett fand seine Verwendung und hielt sich standhaft bis zu Ende. Aber das war nur eine Ausnahme.“

„Und noch ein neuer Zug, der das Bild des Bürgerkrieges, seine ganze Strategie und Taktik vollständig verändert hat. Die Arbeiter sind unsichtbar, unfaßbar geworden. Die neue Kampfmethode erfand für sie eine Art Tarnkappe, die sich jedem Schnellfeuer zu entziehen vermag. Die Arbeiter kämpfen fast nicht mehr in den Straßen, die sie vollständig der Polizei und den Truppen überlassen. Ihre neue Barrikade – mit Millionen von geheimen Durchgängen und Millionen von zuverlässigen Schlupfwinkeln – ist die Arbeiterstadt in ihrer Gesamtheit, mit allen ihren Kellern, Böden und Wohnungen. Jedes Fenster des ersten Stockwerks ist eine Schießscharte dieser uneinnehmbaren Festung. Jeder Dachboden ist eine Batterie und Beobachtungsposten. Jedes Bett eines Arbeiters ist ein Krankenlager, auf das der Aufständische im falle seiner Verwundung rechnen kann. Nur dadurch erklären sich die ungeheuerlichen Verluste der Regierung, während die Arbeiter in Barmbeck nur etwa ein Dutzend Verwundete und einige Tote hatten.

Die Truppen sind gezwungen, auf offenen Straßen anzugreifen. Die Arbeiter nehmen den Kampf bei sich zu Hause auf. Alle Versuche der regulären Truppen, Barmbeck am Dienstag einzunehmen, scheiterten gerade an der verstreuten, unsichtbaren und unfaßbaren Aufstellung der Schützen, die von irgendwo, aus den Fenstern des zweiten Stockwerks, sich in alle Ruhe das Ziel suchten, während unten die hilflosen Haufen der Polizei die leeren Barrikaden buchstäblich mit Feuer überschütteten. In der Voraussicht einer Attacke seitens der Panzerautos gelang es ohne Dynamit und pulver eine Betonbrücke zu sprengen, die als ewig galt. Die Arbeiter fand ihre verwundbare Arterie – ein starkes Gasrohr – heraus, deckten es auf und setzen es in Brand.“

„Die Partei und die hinter ihr stehenden Massen haben sich nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich unendlich gefestigt. Ihre Aktivität ist nicht geschwächt, trotz der zahlreichen Verhaftungen (übrigens wurden die meisten nicht während des Aufstandes, sondern nachher, auf Grund von freiwilligen Denunziationen seitens der Arbeiter und Kleinbürger – der Mitglieder der SPD – vorgenommen). Im Gegenteil: alle Mauern von Hamburg sind mit unauslöschlichen Aufschriften bedeckt. An jeder Straßenkreuzung, an jedem öffentlichen Gebäude liest man die Aufschrift: „Die Kommunistische Partei lebt. Sie kann nicht verboten werden.“ Mag der Reichstag für das „Ermächtigungsgesetz“ gestimmt haben, mag Seeckt die Fülle der Macht in seinen Händen haben, mag die weiße Diktatur die letzten Reste, die letzten kleinen Freiheiten der Arbeitergesetzgebung vernichten – und doch sind alle Wände der Baracken, wo die Arbeitslosen registriert werden, von oben bis unten wie mit Tapeten mit den kleinen kommunistischen Plakaten beklebt. Wie Schneeflocken wirbeln sie in alle Versammlungen der SPD hinein, kleben an den Wänden der Kneipen, an den Scheiben der Straßen- und Untergrundbahnen. Die Frauen der entfernten Viertel, deren ganze männliche Bevölkerung „unterwegs“, d.h. geflohen ist oder in Gefängnissen sitzt, fordern die Zusendung von Plakaten und Flugblättern, und wenn sie sich über etwas beklagen, so doch nur über das Fehlen einer billigen kommunistischen Zeitung. Alles das ist einer Niederlage so wenig ähnlich, dass die Richter der Kriegsgerichte, unter dem Druck der drohenden schweigsamen Masse, die Urteile zu mildern versuchen. Die Verurteilten gehen in die Festung oder in das Zuchthaus mit dem Stolz und der Ruhe von Siegern, mit der unerschütterlichen Gewißheit, dass die Revolution den Ablauf ihrer fünf, sieben oder zehn Strafjahre unbedingt unterbrechen wird, – sie gehen mit einem herablassenden Spott für die Gesetze des bürgerlichen Staates, die feige Brutalität seiner Polizei und die Festigkeit seiner Gefängnismauern. Dieser Glaube kann nicht täuschen.“