Wirtschaftskrise: Schon wieder oder immer noch?

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Im März 2023 sorgte der Kollaps der Silicon Valley Bank in den USA für Schlagzeilen1. Es handelte sich um den größten Zusammenbruch einer Bank seit der Weltwirtschaftskrise 2008/2009. Kurz darauf geriet auch das Schweizer Bankenmonopol Credit Suisse in Schieflage und wurde auf Veranlassung des Schweizer Staates vom Konkurrenten UBS übernommen. Die beiden Bankenpleiten waren das Signal dafür, dass der Weltkapitalismus fünf Jahre nach der Überproduktionskrise 2018/19 und drei Jahre nach Ausbruch der Corona-Pandemie erneut in eine Krisenphase geschlittert war. In Deutschland traf der Kriseneinbruch auf eine Wirtschaft, deren Industrieproduktion noch immer deutlich unter dem Vorkrisenniveau von 2017 lag und bei der die Aufschwungphase nach Corona durch unterbrochene Lieferketten und die Energiekrise infolge des Ukraine-Kriegs abgewürgt worden war. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt ist 2023 gegenüber dem Vorjahr um 0,3 Prozent nach unten gegangen2. Viele Unternehmen haben angesichts von Krise, gestiegenen Zinsen sowie jahrelanger Inflation massive Sparprogramme und Stellenabbau angekündigt, darunter die Chemieindustrie und Zulieferunternehmen der Autoindustrie. Selbst die Bauindustrie droht erstmals seit 2008/09 im großen Stil Arbeitsplätze abzubauen. Im folgenden wollen wir die aktuelle Wirtschaftskrise analysieren und dabei einige Grundlagen der marxistischen Krisentheorie einführen.

Wirtschaftskrisen im Kapitalismus

Wirtschaftskrisen im Kapitalismus sind im allgemeinen Überproduktionskrisen: Sie sind die Folge davon, dass kapitalistische Unternehmen in der Konkurrenz ihre Produktion gesetzmäßig immer wieder über die zahlungsfähige Nachfrage der Gesellschaft hinaus ausdehnen. Der Grund hierfür ist, dass die Produktion von Waren im Kapitalismus vor allem der Erzeugung von Mehrwert und der Akkumulation (Anhäufung) dieses Mehrwerts dient. Das bedeutet, kapitalistische Unternehmen müssen wachsen, um in der Konkurrenz nicht unterzugehen. Der Anteil des in der Produktion geschaffenen Wertes, der wieder in Kapital angelegt wird, vergrößert sich mit der Entwicklung des Kapitalismus immer mehr gegenüber dem Wertanteil, der für Konsumgüter ausgegeben wird — das sind nämlich vor allem die Löhne der Arbeiter:innenklasse und der (sehr kleine) Anteil des Mehrwerts, den die Kapitalist:innen für den eigenen Konsum verwenden. Die Unternehmen dehnen mit jedem Krisenzyklus die Produktion über die Konsumtionskraft der Gesellschaft hinaus aus, bis die Überproduktionskrise akut wird. Die Folgen sind fallende Preise, ein Einbruch der Industrieproduktion, die Vernichtung von Waren und Kapital, der Zusammenbruch des Kreditmarktes, Börsencrashs, Firmenpleiten, Stellenabbau, wachsende Arbeitslosigkeit und vieles mehr. Auf die akute Krise folgt in der Regel eine mehr oder weniger lange Phase der Depression, die durch eine Stagnation der Industrieproduktion gekennzeichnet ist. Danach kommen die Belebung, in der die Industrieproduktion langsam wieder das Vorkrisenniveau erreicht, und der Aufschwung, bei der das Vorkrisenniveau in der Industrieproduktion überschritten wird. Lag die Dauer des Krisenzyklus in der Frühzeit des Kapitalismus noch bei etwa 10 Jahren, hat sie sich bis heute auf 4-6 Jahre verkürzt.

Wirtschaftskrisen im Imperialismus

Diese idealtypische Darstellung des Krisenverlaufs tritt heute in aller Regel nur sehr verzerrt in Erscheinung. Für den imperialistischen Kapitalismus, in dem große Monopole die Produktion und die Märkte unter sich aufgeteilt haben, ist es zum Beispiel kennzeichnend, dass die Produktionskapazitäten auch in den Aufschwungphasen der Wirtschaft nicht voll ausgelastet werden. Ebenso führt die Ausdehnung der Finanzmärkte und der Staatskredite dazu, dass die Produktion auch dann immer noch weiter ausgedehnt oder zumindest am Laufen gehalten wird, wenn die zahlungsfähige Nachfrage eigentlich längst nicht mehr vorhanden ist. Dies war zum Beispiel der Fall, als die imperialistischen Staaten während der Corona-Pandemie Billionenpakete zur Stützung der Wirtschaft geschnürt haben, als sie billiges (zinsfreies) Kreditgeld mehr oder weniger an die Bevölkerung verteilt haben, um den Konsum aufrechtzuerhalten. Durch die immer größere Ausdehnung des Kredits werden die Probleme der kapitalistischen Überproduktion jedoch nicht gelöst, sondern stauen sich zunehmend auf und entladen sich dafür zu einem späteren Zeitpunkt umso heftiger, wie es z.B. bei der Weltwirtschaftskrise 2008/09 geschehen ist. Auch heute sind die weltweiten Kredite auf ein neues Rekordniveau angewachsen: Im Jahr 2023 lag die globale Gesamtverschuldung von Staaten, Unternehmen und Privatpersonen bei 307 Billionen Dollar3 und entsprach damit in etwa dem Dreifachen der weltweiten Wirtschaftsleistung4.

Nicht zuletzt wird die Entwicklung der Weltwirtschaft im Imperialismus direkt durch den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Kampf der imperialistischen Staaten um die Welthegemonie beeinflusst: Die Kriege in der Ukraine und in Westasien etwa wirken sich unmittelbar auf den Energie-, Rohstoff- und Nahrungsmittelmarkt aus, die Taiwankrise auf die High-Tech-Industrie (z.B. Computerchips). Die Angriffe der mit dem Iran verbündeten jemenitischen Huthi-Rebellen auf den Schiffsverkehr im Roten Meer haben innerhalb weniger Monate wieder zu einer Verdreifachung der Frachtraten für Seetransporte geführt und Produktionsstopps in der deutschen Autoindustrie wegen fehlender Teile nach sich gezogen5.

Die Überproduktionskrise 2018/19 und die Corona-Pandemie

Für das Verständnis der aktuellen wirtschaftlichen Lage des Weltkapitalismus ist zunächst ein Blick auf die letzte große Wirtschaftskrise notwendig: Die Corona-Pandemie brach Anfang 2020 weltweit aus und traf damals auf eine kapitalistische Wirtschaft, die sich bereits seit 2018/19 in einer zyklischen Überproduktionskrise befand. Die deutsche Industrieproduktion — das wichtigste Maß für den Krisenzyklus — hat ihr bisheriges Allzeithoch im November 2017 erreicht. Bis Ende 2019 stürzte die Produktion bereits um etwa 7 Prozentpunkte auf das Niveau von 2015 ab. Im April 2020 folgte dann mit den Lockdowns der steile Absturz um weitere 23 Prozentpunkte. Zu den direkten Auswirkungen der Pandemie kam damals ein Preiskrieg zwischen den OPEC6-Staaten und Russland um die Neuaufteilung des Weltölmarktes hinzu, der zu einem Fall des Ölpreises ins Bodenlose führte und die wirtschaftlichen Verwerfungen erheblich verschärfte.7

Die Erholung setzte zwar noch im selben Jahr ein, führte aber statt zu einer echten Belebung und einem erneuten Aufschwung nur zu einer schwankenden Stagnation. Die deutsche Industrieproduktion schwankte in den folgenden Jahren in etwa zwischen 95 und 100 Prozent des Niveaus von 2015 — bis im Jahr 2023 die nächste Überproduktionskrise einsetzte.8

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Die wesentliche Ursache für den ausbleibenden Aufschwung nach 2020 waren die direkten Folgen der Corona-Pandemie: Weltweit kam es bis 2022 immer wieder zeitweise zu Lockdowns und vor allem zur Unterbrechung der industriellen Lieferketten: Die kapitalistische Produktion konnte nur unter schweren Stockungen wieder hochfahren, weil auf breiter Front Rohstoffe und industrielle Vorprodukte fehlten und es erhebliche Kapazitätsengpässe im internationalen Seehandel gab. Zudem kam es im Zuge der Umstellung zahlreicher kapitalistischer Länder auf nicht-kohlenstoffbasierte Technologien und anhaltenden Preiskämpfen der rohstoffproduzierenden Länder bereits 2021 zu einem erheblichen Anstieg der Preise für Öl (+ 100 %), Erdgas (+ 130 %) und Kohle (+ 342 %). Dies führte auch dazu, dass die Verbraucherpreise bereits im Jahr 2021 so stark anstiegen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. In Deutschland lag die offizielle Inflation im September 2021 bereits bei 4,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

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Ukrainekrieg und weitere Preisexplosion

Die weitere Explosion der Preise folgte dann rund um den Ausbruch des Ukraine-Kriegs. Russland drosselte seine Gasexporte bereits ab dem Herbst 2021 und stellte seine Lieferungen nach Deutschland kurz nach Beginn des Krieges und der Sabotage der Nordstream-Pipelines vollständig ein, was zur drastischen Erhöhung der Gas- und Strompreise in Deutschland führte. Doch auch der Preis für Getreide explodierte infolge des Krieges, da die ukrainischen Getreide- und Ölsaatenexporte um 30 bis 50 Prozent einbrachen, Russland seine Düngemittelproduktion drosselte und andere Staaten wie z.B. Indien Ausfuhrstopps für Getreide verhängten9. Hinzu kam die im Kapitalismus übliche Spekulation des Handels: Im November 2022 meldete das Handelsblatt, dass mehr als 30 Tankschiffe mit verflüssigtem Erdgas (LNG) vor den europäischen Küsten auf- und abfuhren. Die Gashändler aus Australien, Katar und den USA warteten für ihre Lieferung nämlich auf noch weiter steigende Preise: Entsprechend wiesen sie offenbar ihre Reedereien an (…), das Transporttempo massiv zu drosseln.“10

In Deutschland kletterte infolgedessen die Teuerungsrate gegenüber dem Vorjahresmonat im Laufe des Jahres 2022 immer weiter nach oben und erreichte zwischen September 2022 und Februar 2023 mit 8,6 – 8,8 % ihren Rekordwert11. Die reale Teuerung für Arbeiter:innenhaushalte mit geringen Einkommen dürfte dabei nach Schätzungen des DIW-Chefs Marcel Fratzscher drei- bis viermal so hoch liegen wie für Menschen mit hohen Einkommen.12

Die Zinswende der Notenbanken und ihre Folgen

Mit der weltweit ansteigenden Teuerung begannen die Notenbanken der großen kapitalistischen Länder und Wirtschaftsräume den Ausstieg aus der Geldflutung der Märkte. Die US-Notenbank Fed, die den Leitzins während Krise und Corona zwischen Dezember 2018 und März 2022 von 2,25 auf 0,25 Prozent gesenkt hatte, ging nun drastisch in die entgegengesetzte Richtung und erhöhte den Zins ab Anfang 2022 quartalsweise um 0,5 bis 0,75 Prozent, bis im Sommer 2023 eine Zinsspanne von 5,25 bis 5,5 Prozent erreicht war — der höchste Stand seit über 20 Jahren.13 Auch die EZB, die mit Blick auf die Verschuldung einer Reihe von Mitgliedsstaaten eigentlich sehr restriktiv mit Zinserhöhungen umgeht, ging ab September 2022 in schnellen Schritten von 0 Prozent auf 4,5 Prozent ein Jahr später. Schon zuvor hatte sie ihr billionenschweres Kaufprogramm für Anleihen von Staaten und Konzernen eingestellt.

Die Beendigung der jahrelangen Niedrigzins- und Pumpphase der großen kapitalistischen Länder machte deren versteckte Auswirkungen sehr schnell offensichtlich. Dazu gehörte die massive Bildung von Spekulationsblasen auf zahlreichen Anlagefeldern wie z.B. Immobilien: Über Jahre hinweg hatten sich Investor:innen beinahe zu Nullzinsen bei Banken verschuldet, in private und gewerbliche Immobilien investiert und dort — ähnlich wie vor der Krise von 2008, als die Bank Lehman Brothers spektakulär pleite gegangen war14 — zu einer massiven Überproduktion auf dem Häusermarkt beigetragen. Als die Zinsen Anfang 2023 plötzlich in kurzer Zeit stiegen und zugleich die Preise für Rohstoffe und Baumaterialien explodierten, während die Immobilienpreise fielen, führte dies schnell zu einer Krise der Bau- und Immobilienbranche, sichtbar etwa an einem Einbruch der Bautätigkeit: Im November 2023 meldete das Statistische Bundesamt, dass die Zahl der Baugenehmigungen für Wohnungen in Deutschland im September im Vergleich zum Vorjahresmonat um 29,7 Prozent zurückgegangen war.15 Im Januar 2024 prognostizierte der Hauptgeschäftsführer des Bauindustrieverbands HDB einen Abbau von 10.000 Stellen in der deutschen Bauindustrie. Es wäre der erste große Stellenabbau in der Branche seit der Weltwirtschaftskrise 2008/09. Seitdem war die Bauindustrie um 200.000 Arbeitskräfte auf 927.000 Stellen angewachsen — was ein Ausdruck für den Bauboom während der Niedrigzinsphase ist.

Im Zuge der Immobilienkrise gerieten im Frühjahr 2023 auch zahlreiche europäische Banken unter Druck, als Hedgefonds und andere Spekulant:innen auf den Finanzmärkten gegen deren Aktien wetteten. Skandinavische Banken waren etwa besonders stark im Gewerbeimmobilienmarkt investiert und nun mit dem Risiko von Zahlungsausfällen konfrontiert. Mittlere deutsche Banken und Sparkassen machen wiederum über 40 Prozent ihres Geschäfts mit privaten Immobilienkrediten, für die der Markt innerhalb eines Jahres um 50 Prozent eingebrochen war.16

Bankenkrise

Während die deutschen Banken und Sparkassen jedoch bislang noch glimpflich durch die Krise gekommen sind, hing der spektakuläre Zusammenbruch der Silicon Valley Bank im März 2023 mit der Überproduktionskrise in einer anderen Branche zusammen. Die Tech-Industrie hatte nämlich während der Corona-Pandemie, als Büroangestellte rund um den Globus in die Remote-Arbeit gewechselt sind, ebenfalls große Überkapazitäten aufgebaut. Anfang 2023 begannen dann Zoom, Microsoft, Amazon und andere IT-Größen mit der Streichung von zehntausenden Jobs. Die Silicon Valley Bank hatte ihre Kunden vor allem bei kalifornischen Startups, die nach dem Ende des Tech-Booms dringend Geld benötigten. Die Bank musste deshalb in großen Mengen Staats- und Hypothekenanleihen verkaufen, um an Bargeld zu kommen. Deren Kurse waren aber infolge der Zinssteigerung und der Immobilienkrise drastisch gefallen. Die Bank konnte sich nicht mehr refinanzieren und wurde geschlossen. Die Situation konnte nur durch das Eingreifen des US-Staates entschärft und ein größerer Sturm auf andere Banken verhindert werden.17

Die kurze Bankenkrise in den USA hat dazu geführt, dass Kund:innen ihr Geld von kleineren und mittleren Banken abgezogen und bei den Großbanken des Landes konzentriert haben. So haben die 25 größten Banken der USA kurz nach dem SVB-Crash 120 Milliarden Euro an Einlagen gewonnen, während alle kleineren Banken im selben Zeitraum 108 Milliarden Euro Einlagen verloren haben. Auch in Europa zogen Bankkund:innen ihre Sichteinlagen so schnell ab wie noch nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch die EZB — und gaben es zu größeren Banken, die höhere Zinsen anboten.18

Zu einer größeren Bankenkrise ist es 2023 zwar nicht gekommen. Das Risiko besteht aber fort, insbesondere da der Preis für US-Staatsanleihen — dem wichtigsten Wertpapier in der Finanzwelt — seit der Corona-Pandemie ebenfalls deutlich gefallen ist. Nahezu alle Banken und andere Finanzinstitutionen haben dieses Papier aber in großen Mengen in ihren Büchern, weil sein Kurs bisher immer sehr stabil war und der Markt dafür so groß, dass man es zu jedem Zeitpunkt sofort verkaufen konnte. Die Krise auf dem Markt für US-Staatsanleihen ist kurzfristig eine direkte Begleiterscheinung der Bankenkrise — denn viele Banken haben ihre Anleihen im letzten Jahr verkauft, um an Geld zu kommen. Längerfristig wird dieser so zentrale Wertpapiermarkt jedoch vor allem durch die globale Rekordverschuldung und den verschärften imperialistischen Konkurrenzkampf untergraben: Mit Japan und China haben die größten Gläubiger der USA in den letzten Jahren große Mengen ihrer US-Staatsanleihen verkauft. China, Russland und andere Staaten suchen zudem nach Möglichkeiten, die globale Vorherrschaft des Dollars zurückzudrängen. Damit lässt aber auch das Vertrauen in die Fähigkeit der USA nach, sich unbegrenzt zu verschulden — und diese Annahme liegt der Rolle von US-Staatsanleihen für die Weltfinanzordnung faktisch zugrunde.

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Firmenpleiten und Stellenabbau in Deutschland

In Deutschland macht sich die aktuelle Überproduktionskrise vor allem in Stellenabbauprogrammen großer Konzerne19 und in einer wachsenden Zahl von Firmenpleiten bemerkbar. Begonnen hat die Verkündung von Sparprogrammen im Sommer 2023 bei der Chemieindustrie, inzwischen haben viele weitere Branchen wie die Autozulieferindustrie nachgezogen. Bei den Insolvenzen wiederum überlagern sich die Auswirkungen der letzten Überproduktionskrise — während Corona hatte der Staat die Insolvenzpflicht für überschuldete Unternehmen zeitweise ausgesetzt und allerlei Hilfskredite vergeben — und der aktuellen Krise20. Die Rekordinflation hat zur wohl massivsten nachhaltigen Senkung des Lebensstandards von Millionen Arbeiter:innen seit Jahrzehnten und einer historischen Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben geführt — was die DGB-Gewerkschaften über ihre Politik der Vermeidung konsequenter Tarifkämpfe mitorganisiert haben: Obwohl IG Metall, Verdi und andere Gewerkschaften zum Teil deutlich höhere Tarifforderungen aufgestellt haben als in früheren Jahren, haben sie in der Regel nach wenigen Streikrunden faule Kompromisse mit der Kapitalseite abgeschlossen, bei denen sie vermeintlich hohe Abschlüsse über sehr lange Zeiträume gestreckt und damit weitgehend entwertet haben.

Und zumindest wenn es nach den Prognosen der Commerzbank geht, wird das Jahr 2024 für den deutschen Kapitalismus nicht viel besser aussehen als das vergangene Jahr: Das Institut widersprach den optimistischen Prognosen von Bundesregierung, Unternehmen und verschiedenen Wirtschaftswissenschaftler:innen, die mit einem BIP-Plus rechnen, und geht mit Verweis auf die gesunkenen Reallöhne von einem erneuten Schrumpfen des BIP um 0,3 Prozent aus.21 Hierfür spricht, dass die Weltwirtschaft nach einer mäßigen Prognose des IWF von 3,1 % Wachstum nur mühsam aus der schwankenden Stagnation herauskommt.22 Auch China als einer der wichtigsten deutschen Exportmärkte stagniert und produziert im Zuge seiner Kriegsvorbereitung immer mehr Güter selbst. Wann die deutsche Industrieproduktion vor diesem Hintergrund wieder über ihr Niveau von November 2017 kommt, kann heute noch kein Mensch vorhersagen.

Beim Ukraine-Krieg ist zudem noch kein Ende in Sicht. Der Krieg in Westasien droht sich zu einem großen regionalen Krieg mit zahlreichen Akteur:innen auszuwachsen. Die Konfliktherde in Taiwan und auf der Koreanischen Halbinsel können jederzeit zu einem großen Krieg im Pazifik führen. Alle diese Entwicklungsmöglichkeiten hätten potentiell verheerende Folgen für den deutschen Kapitalismus und würden wohl zwangsläufig noch schärfere Angriffen von Kapital und Staat auf die Arbeiter:innenklasse nach sich ziehen. Dabei geht die letzte Angriffswelle seit 2022 mit dem massiven Stellenabbau der Unternehmen und den beschlossenen Sparprogrammen der Ampelregierung gerade erst in eine neue Phase über. Wie weit der Lebensstandard von Millionen Arbeiter:innen in Deutschland in diesem Jahr mit der Streichung der Energiepreisbremse, gestiegenen Sozialversicherungskosten und den Kürzungen im Sozialhaushalt noch sinken wird, wird entscheidend davon abhängen, wie viel Widerstand es dagegen gibt — wie man nicht zuletzt an den massiven Bauernprotesten zu Jahresbeginn und der schnellen Reaktion des Staates gesehen hat.

6Organization of the Petroleum Exporting Countries mit den Mitgliedsstaaten Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, Irak, Iran, Kuwait, Algerien, Äquatorialguinea, Republik Kongo, Libyen, Nigeria und Venezuela.

13Zum Begriff des Leitzinses und der Leitzinsentwicklung in den USA siehe folgenden Link: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/419455/umfrage/leitzins-der-zentralbank-der-usa/