Streiktag – eine Kurzgeschichte

Diese Kurzgeschichte wurde während der Streiks der GDL geschrieben, jedoch erst nach ihrem Ende fertiggestellt. Wir veröffentlichen sie jetzt dennoch, da ihr Inhalt auch für die nächsten Streiks aktuell bleibt.

Diese Kurzgeschichte wurde während der Streiks der GDL geschrieben, jedoch erst nach ihrem Ende fertiggestellt. Wir veröffentlichen sie jetzt dennoch, da ihr Inhalt auch für die nächsten Streiks aktuell bleibt.

Schon wieder tönte die Sifa. Er seufzte und hob seinen Fuß kurz von dem Pedal. Die Sifa war ein Sicherheitssystem, die englischen Kolleg:innen nannten es auch „Dead Mans Handle“ Totmannsschalter. Ungefähr alle 20 Sekunden musste er seinen Fuß kurz von einem Pedal heben ansonsten fing die Sifa an zu hupen. So sollte sichergestellt werden dass er noch Wach und bei Sinnen war. In letzter Zeit war ihm das Geräusch der Sifa viel zu vertraut geworden. Immer öfter nickte er weck. Der Schichtdienst machte das aus einem. An manchen Tagen hielt in nur die Angst ein rotes Signal zu überfahren wach. Das und die Sifa.

Früher hatte Manuel der Job Spaß gemacht. Die Arbeit war okay gewesen, die Kolleg:innen nett und die Bezahlung ausreichend. Das war jetzt zwei Kinder und eine Inflation, deren Prozentzahl er nicht nachzuschauen wagte, her. Müde war er geworden. Müde, alt und verbittert. In der Frühschicht stand er auf, lange bevor seine Kinder wach wurden um zur Schule zu gehen, und wenn er mittags zurück kam war er zu fertig um der aktive Vater zu sein, der er eigentlich sein wollte. In der Nachtschicht verschlief er den Tag komplett. Dazu kam der ständige Wochenenddienst. Fast jeden Samstag fuhr er glückliche Familien zu ihren Ausflugszielen. Wenn seine Familie Ausflüge machte, dann meistens ohne ihn. „Wie viele Momente im Leben meiner Kinder habe ich wohl schon verpasst, eingesperrt in meinem kleinen Führerhäuschen“, dachte Manuel.

Dazu kam die Strecke. Jeden Tag die gleiche Strecke. Er kannte jeden Baum, jedes Haus, jedes Signal, jede Pendler:in und er hatte von ihnen allen die Schnauze voll. Wieder ertönte die Sifa. Draußen zog die immer gleiche Landschaft vorbei. Gestern Nacht hatte Manuel kaum geschlafen. Immer wieder Geldsorgen. Eine Woche Ostsee, das hatte er seinen Kindern versprochen. Doch jetzt war das Auto kaputt, der Kühlschrank noch lange nicht abbezahlt und die Waschmaschine in einem noch schlechteren Zustand als er. Wie sollten sie das nur alles schaffen? Seine Frau machte schon Überstunden und trotzdem war es nicht genug, es war niemals genug. Mit jedem kleinen finanziellen Polster kam gleiche die nächste Rechnung. ‚Naja, jammern hilft ja auch nichts. Morgen war Streiktag. Hoffentlich würde es danach besser werden.‘

Langsam quälte sich der Bus durch die Landschaft. Mit dem Zug dauerte die Strecke zwanzig Minuten. Der Bus war jetzt schon über vierzig Minuten unterwegs. Dazu kamen die zehn Minuten die Susanne gebraucht hatte um den Schienenersatzverkehr zu finden, der sich aus irgendeinem Grund nicht an der Bushaltestelle vor sondern an der Unterführung hinter dem Bahnhof versteckte. Sie würde heute so was von zu spät zur Arbeit kommen. Dabei hatte sie den Job doch erst wenige Woche, was war das für ein Eindruck.

Klar, sie konnte die Streikenden ja verstehen. Die Arbeit war scheiße und der Lohn gering, aber das war ja für alle so. Warum mussten da normale Reisende drunter leiden? Viele waren auf den Zug angewiesen und ihr Abteilungsleiter verstand bei Verspätung keinen Spaß. Bestimmt gäbe es noch irgendeinen anderen Weg, mit dem die Lokführer:innen Druck ausüben könnten, ohne das normale Leute wie sie davon betroffen waren. Sie konnte ja auch nichts dafür. Der Bus bog ab, langsam näherten sie sich der Stadt. Immerhin war sie fast da. Bei dem Gedanken ihre Verspätung zu rechtfertigen bekam sie Panik. Fast wünschte sie sich, der Bus wäre noch länger auf der endlos scheinenden Landstraße gefahren. Dem Ausdruck auf den Gesichter ihrer Leidensgenoss:innen zu urteilen teilten einige diesen Wunsch.

Der Streikposten stand nicht weit entfernt vom Hauptbahnhof. Lange hatte er dafür gekämpft, dass ein möglichst öffentlicher Ort gewählt werden würde. Nicht nur der Betriebsrat war dagegen gewesen. „Man könnte uns vorwerfen wir machen einen politischen Streik wenn wir das so öffentlich machen“, hatte er gesagt. Manuel hatte das wütend gemacht. „Dieser Streik ist politisch ob wir das wollen oder nicht. Schaut euch doch deren Politik an, wie sie an allen Ecken sparen außer wenn es um die Reichen geht und sobald wir streiken, hetzen sie gegen uns. Ist das keine Politik?“ Viele hatten ihm zugestimmt. Schwieriger waren ein paar der Kolleg:innen gewesen. Einige waren über den Ort besorgt. Nicht weit davon hielt der Schienenersatzverkehr. Viele genervte Reisende würden an ihnen vorbeilaufen. „Ja genau! Gerade die müssen wir überzeugen“, meinte Manuel und hatte sich schließlich durchgesetzt.

Susanne rannte fast aus dem Bus. Noch zehn Minuten bis zu ihrem Arbeitsplatz, wenn sie Gas geben würde könnte sie es vielleicht in sieben schaffen. Sie rannte weiter. Neben ihr tauchte ein Pavillon auf, einige Männer und Frauen in Gewerkschaftswesten stand drum herum. Ein Streikposten. Sie hielt an. Zu spät kam sie eh, immerhin konnte sie jetzt ihren Ärger Luft machen. Sie ging auf einen der Leute zu. Ein älterer Mann, auf seinem faltigen Gesicht erschien ein leichtes Lächeln als er sie sah. „Hallo, ich bin Manuel. Wir sind heute hier weil…“ „Ich weiß warum ihr hier seid und es ist mir egal“, unterbrach sie ihn. „Wegen euch komme ich zu spät zur Arbeit. Kriegt ihr mehr Lohn wenn ich gekündigt werde? Was für eine sinnlose Aktion zieht ihr hier eigentlich gerade durch.“ Der Mann zuckte zusammen als hätte sie ihn geschlagen.

„Es tut mir leid. Glaub mir, wirklich. Es ist nicht unser Ziel euch Reisende zu nerven, aber was bleibt uns den anderes übrig? Nur so können wir den Bossen Druck machen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Unsere Löhne sind seit Jahren die gleichen, aber die Preise steigen und steigen. Dazu die langen Schichten, der Stress. Das kennst du ja bestimmt auch.“ „Ja aber das ist ja nicht meine Schuld und deren Schuld“, sie zeigte auf die anderen Reisenden die den Bus nach hier verlassen hatten und jetzt in etwas Entfernung an ihnen vorbeigingen, „ist es auch nicht.“„Das wissen wir, aber sieh es doch mal so, den Bossen sind wir egal nur der Profit zählt, wenn wir streiken dann fehlt ihnen der Profit, das tut weh, dann hören sie wenigstens zu.“ Er seufzte: „Aber ich verstehe, dass dir das jetzt gerade nicht viel nützt.“

Susannes Wut lies langsam nach, der Mann wirkte ehrlich. „Gibt es wirklich keine andere Möglichkeit?“ „Keine realistischere und Streiks haben sich seit Jahrhunderten bewehrt. Nicht nur bei uns, bei der Bahn. Gerade deswegen sollten wir zusammen halten. Probleme gibt es ja nicht nur bei uns. Aber trotzdem tut es mir sehr leid, dass du heute so viel Stress hattest.“

Susanne sah den Mann an. Er hatte die gleichen müden Augen, die sie als Kind bei ihrer Mutter gesehen hatte wenn sie spät von der Arbeit nach Hause kam. In letzter Zeit hatte sie die gleichen Augen auch immer öfter bei sich selbst im Spiegel gesehen.

„Nein, mir tut es leid“ sagte Susanne. Auf einmal hatte sie das Gefühl, auf die falschen Leute wütend gewesen zu sein. „Ich muss jetzt weiter, euch aber viel Erfolg. Ehrlich“. Eilig ging sie weiter, doch dachte sie noch den ganzen Weg über das Gespräch nach. Der Mann hatte recht. Probleme gab es auch auf ihrer Arbeit genug. Vielleicht sollte sie in der Mittagspause mal mit ihren Kolleg:innen reden. Vielleicht könnte auch sie dagegen etwas tun. Das Thema bot sich ja an. Immerhin war ja Streiktag.