Buchempfehlung: Emmanuel Kasakewitsch: Das blaue Heft

Emmanuel Kasakewitschs Roman wählt eine untypische Perspektive, um von den entscheidenden Monaten der Vorbereitung auf die Oktoberrevolution zu berichten. Das Buch handelt von Lenin und stellt ihn ohne Zweifel als großen Helden der Revolution dar, jedoch nicht, indem die politischen Ereignisse und Lenins Umgang mit ihnen in den Vordergrund gestellt werden. Im Zentrum steht vielmehr Lenins Arbeitsweise, sein Umgang mit den Menschen in seiner Umgebung und sein nicht zu erschütternder revolutionärer Optimismus.

Als Leser:innen erleben wir die Wochen nach den Julidemonstrationen in Sankt Petersburg, in denen die provisorische Regierung unter dem Menschewiken Kerenski mit besonderem Nachdruck nach Lenin fahndete, ihn dazu zwang, sich zurück in die Illegalität zu begeben und ihn zugleich auf das Schlimmste verleumdete.

Das Blaue Heft spielt vollständig in einem von Lenins Verstecken am See Razliv in der Nähe von Sankt Petersburg. Lenin hält sich gemeinsam mit Grigori Sinowjew bei einer bolschewistischen Arbeiterfamilie versteckt und bemüht sich unter diesen Bedingungen, Einfluss auf die Geschehnisse in den Zentren der Revolution, in Sankt Petersburg und Moskau, zu nehmen.

Kasakewitsch versucht zu interpretieren, wie sich Lenin in diesen Tagen wohl gefühlt haben könnte und wie er wohl gedacht hat. Es gehört zu den Stärken des Buchs, dass Lenin hierbei als Mensch dargestellt wird, der außergewöhnliches leistet und dessen ganzes Denken und Handeln von seinem revolutionären Willen dominiert wird. Er bleibt aber dabei Mensch, der Gefühle hat, aufgeregt ist, gekränkt sein kann und in seltenen Momenten sogar trübsinnig wird.

Ob Lenin so oder anders gefühlt hat ist dabei für den Wert des Romans nicht entscheidend und kann auch nicht zweifelsfrei ermittelt werden. Wichtig ist, dass es eine plausible Darstellung der Gefühlswelt eines großen Revolutionärs ist, an der sich Leser:innen gerade deshalb ein Beispiel nehmen können.

Kasakewitsch bleibt aber nicht dabei stehen, sondern erzählt seine Geschichte auch immer wieder aus der Sicht seiner Nebenfiguren weiter: Den Kindern und der Frau der Familie, die Lenin versteckt, dem zweifelnden ZK-Mitglied Sinowjew und anderen Bolschewiken wie Swerdlow, Dzierżyński und Ordschonikidse. Auch hier steht jedoch die Wirkung, die Lenin auf sein Umfeld entfaltet, im Zentrum der Aufmerksamkeit des Autors.

Das besondere an dem kurzen und doch sehr tiefsinnigen Roman ist wohl, dass nicht die Handlung im Vordergrund steht, sondern vielmehr der Umgang der Figuren miteinander und ihre Gefühle und Gedanken. Von ihnen und dem Umgang mit ihnen können die Leser:innen dann auch am meisten lernen und mitnehmen.